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Kaurismäki-Film "Le Havre": Ein Hafen der Brüderlichkeit, mitten in Europa

Aki Kaurismäki erzählt in „Le Havre“ ein Flüchtlingsmärchen ganz von dieser Welt. Er lädt damit den Zuschauer zu einer Reise in die Welt der Nächstenliebe ein.

Über die Festung Europa, die Flüchtlinge aus Afrika, ihre unwürdige Behandlung und die moralische Krise des Westens kann man sozialrealistische Filme drehen, Pamphlete, flammende Anklagen. Aki Kaurismäki hat ein Märchen gedreht. Der Welt hält er keinen Spiegel vor, sondern eine Gegenwelt.

Es war einmal in Kaurismäki-Land. Die Helden sind einfache, freundliche Leute, sie leben in einem beschaulichen, bilderbuchbunten Universum. Grüner Zaun, blaue Tür, rotes Kleid, gelber Pulli, leuchtende Farben wie aus dem Jenseits. Hier in „Le Havre“ an der nordfranzösischen Küste wohnt Marcel Marx (André Wilms) mit seiner Frau Arletty (Kati Outinen). Marx war einmal ein Bohemien in Paris (in „Das Leben der Bohème“, Kaurismäkis letztem französischen Film von 1992), jetzt ist er Schuhputzer. Mit einem asiatischen Kollegen wartet er am Bahnhof auf Kundschaft. Aber die Leute tragen Turnschuhe, und wer mit Lederschuhen und Aktenkoffer ankommt, entpuppt sich als Gangster.

Das kleine Haus mit dem Kirschbaum davor. Die Bäckerei, der Gemüseladen, die Bar. Die Frau in der Küche. Laila, der Hund. So minimalistisch war Kaurismäki noch nie: „Le Havre“ sieht nach naiver Malerei aus, aber Vorsicht, das Märchen hat es in sich. Da gibt es etwa unvermittelt dokumentarische Aufnahmen von der Räumung eines Flüchtlingszeltlagers. Oder plötzlich streiten sich die Hafenarbeiter in der Kneipe über die Zubereitung französischer Köstlichkeiten, über elsässische Entengerichte oder das beste Rezept für Jakobsmuscheln. Das passt nicht zusammen, und das soll es auch nicht.

Es ist, als ob Kaurismäki die eigene Filmkunst auf die Probe stellt. Seit jeher der Chef-Melancholiker, der sich nicht abfinden mag mit dem Lauf der Welt, Geschichten über Verlierer. Dabei macht er sich keine Illusionen über das eigene revolutionäre Potenzial, deshalb die immer größere Lakonie. Tapfer trotzen seine Figuren allen Widrigkeiten, manchmal gehen sie daran kaputt, manchmal geschieht ein Wunder, und die Liebe bricht aus. Aber wie sähe ein Film aus, in dem keiner verliert und es von herzensguten Menschen nur so wimmelt? In dem es Menschlichkeit gibt, Anstand, Solidarität? Kaurismäki muss sich gedacht haben: Das geht nur in konsequent unwirklichem Ambiente, in der Nirgendwowelt von Utopia. So realistisch ist sein RetroMärchen dann doch.

Marcel Marx trifft am Hafen Idrissa (Blondin Miguel), einen Flüchtlingsjungen aus Afrika. Idrissa ist der Polizei entkommen, er will nach London zu seiner Mutter, braucht 3000 Euro für den Transfer. Der Schuhputzer versteckt ihn, das ganze Viertel hilft ihm dabei – auch der Altrocker Little Bob, den Marcel zum Benefizkonzert überredet, wegen der Kosten für den Schleuser. Sogar Kommissar Monet (Jean-Pierre Darroussin) schlägt sich auf die Seite der Helfer. Zu guter Letzt kommt sogar Marcels unheilbar kranke Frau aus dem Krankenhaus gesund nach Hause, das bisher größte Wunder im Oeuvre des wortkargen Finnen. Nur Jean-Pierre Léaud, der Auftragsmörder aus Kaurismäkis „I Hired a Contract Killer“, tritt in einer Mini-Rolle als Denunziant im Trenchcoat auf: ein erbarmungswürdig zittriger Bösewicht.

Die Menschen in „Le Havre“ sprechen mehr als sonst in Kaurismäki-Filmen, aber es bleiben schlichte, aufgesagte Sätze. Kati Outinen spricht ein holpriges Französisch mit schwerem Akzent; jeder Dialog, jede Begegnung, jede Kameraeinstellung wird aufs Nötigste stilisiert. Die Liebe: eine Rose. Der Feierabend: Zigarettenrauch, ein Drink, drei Oliven. Der Liebeskummer: fünf leere Schnapsgläser auf dem Tresen. Trotzdem knausert Kaurismäki nicht, für den Auftritt von Little Bob, seinen „Elvis von Le Havre“ und tatsächlich sehr kleinen, aber unglaublich vitalen alten Sänger, nimmt er sich alle Zeit der Welt. Und nie wird die Kamera (Timo Salminen) statisch, ihre leise Unruhe verrät Wachsamkeit, Empathie.

Wird Kaurismäki nostalgisch, gar altersmilde? „Le Havre“ beschwört, was es vielleicht niemals gab: einen Hafen der Brüderlichkeit, mitten in Europa. Wem das zu simpel ist, der verkennt die Verzweiflung, die hinter der Erkenntnis steckt, dass diese Geschichte von der Rettung eines afrikanischen Flüchtlings gar nicht von dieser Welt sein kann.

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