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Intime Einblicke in die Zeit nach dem 7. Januar 2015: In der dreiseitigen Episode „Lippenstift“ (hier ein Auszug) verarbeitet „Charlie Hebdo“-Zeichner Luz einen Traum, in dem sich die Spuren des Attentats mit der Lippenstiftfarbe seiner Frau vermischen.

© Luz/ Scan Tsp

"Katharsis" des Charlie Hebdo-Zeichners Luz: Zeichen und Wunde

Die „Je suis Charlie“-Titelseite des Zeichners Luz ging um die Welt. Nun erscheint der Band „Katharsis“, eine intime Trauma-Bewältigung in Bildern.

Am Abend vor seinem Geburtstag überkommt Renald Luzier alias Luz stets eine Art Melancholie. „Wissen Sie“, erklärt der langjährige Charlie-Hebdo-Zeichner seiner Therapeutin, „am 7. Januar ist in der Geschichte nie etwas passiert. Es passierte nie etwas an dem Tag, außer meinem Geburtstag und meiner Mutter, die mich unter Tränen anruft.“

Seit diesem Jahr ist das anders. Der 7. Januar ist der Tag des Anschlags auf die Redaktion des französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo“. In dem nun erschienenen Album „Katharsis“ blickt der Franzose in den Abgrund, der sich unter ihm aufgetan hat. „Eines Tages ist mir das Zeichnen abhanden gekommen. Am selben Tag wie auch eine Handvoll teurer Freunde“, schreibt er zu Beginn seiner gezeichneten Konfrontation mit den Dämonen, die ihn seitdem heimsuchen.

Der Zeichner verschlief an seinem Geburtstag und kam später als geplant in die Redaktion. Es rettete ihm das Leben. Kurz vor seiner Ankunft hatten zwei islamistische Attentäter elf seiner Freunde und Kollegen kaltblütig erschossen, darunter Stéphane Charbonnier, Jean Cabut, Bernard Verlhac, Philippe Honoré und Georges Wolinski.

Produktivität in der Schockstarre

Am Abend des Attentats sollte er seine Zeugenaussage machen. Wie in Trance zeichnete er ein Strichmännchen mit weit aufgerissenen Augen neben das nächste. Es ist sein Bild für den Schock, unter dem eine ganze Nation für die nächsten Tage stehen sollte.

Der Abend nach dem Attentat: Luz malt Strichmännchen.
Der Abend nach dem Attentat: Luz malt Strichmännchen.

© Luz/ Scan Tsp

Bei Luz hält die Schockstarre für Wochen an. Wochen, in denen er zum produktivsten Zeichner von „Charlie Hebdo“ avanciert. Allein die „grüne Ausgabe“, die neun Tage nach dem Attentat erscheint, enthält sechs Beiträge aus seiner Feder – auch das berühmte Titelbild. Es zeigt eine weinende Mohammed-Figur auf grünem Grund, die ein „Ich bin Charlie“-Schild in der Hand hält; darüber der Schriftzug „Alles ist vergeben“. Auf der Pressekonferenz zur Vorstellung der Ausgabe sagte er sichtlich bewegt, dass dies nicht der Titel gewesen sei, den „die Welt von uns erwartet hat, sondern der, den wir zeichnen wollten.“

Jede Ausgabe eine Qual

Gemeinsam mit den Hinterbliebenen der Redaktion produzierte Luz seither eine Ausgabe nach der anderen. Doch mit jedem Strich verlor er mehr und mehr das Interesse an der Gegenwart, bekam Angst vor dem leeren Blatt. Ende April erklärte er in der Kulturzeitschrift „Les Inrockuptibles“, dass er keine Mohammed-Karikaturen mehr zeichnen wolle. Plötzlich war der gerade noch gefeierte Held der Meinungsfreiheit ein „Schlappschwanz“, der vor religiösem Fundamentalismus einknickt. In „Katharsis“ straft er seine Kritiker Lügen. Darin echauffiert sich ein Muslim über eine vermeintliche Mohammed-Zeichnung. „Aber das ist nicht Mohammed. Das ist ein Klecks!“, stellt der Karikaturist richtig. Doch wo Wahnsinn regiert, kann Vernunft nicht obsiegen – das Absurde nimmt seinen Lauf. Satire braucht eben keinen gezeichneten Propheten oder Gott, sondern geistige Flexibilität.

Blutrot ist der Eindruck aus der dreiseitigen Episode „Lippenstift“ (hier ein zweiter Auszug) des "Charlie Hebdo"-Zeichners Luz.
Blutrot ist der Eindruck aus der dreiseitigen Episode „Lippenstift“ (hier ein zweiter Auszug) des "Charlie Hebdo"-Zeichners Luz.

© Luz/ Scan Tsp

Nach fünf Monaten ohne seine Weggefährten gestand der Zeichner im Mai der französischen Tageszeitung „Libération“, dass jede neue Ausgabe „eine Qual“ sei, „seit die anderen nicht mehr da sind“, und kündigte seinen Rückzug aus der Redaktion für September an. „Ich werde nicht mehr Charlie Hebdo sein, aber immer Charlie bleiben.“

Der Zeichner und die Zeichnung

Bereits im März forderte Luz neben vierzehn anderen Redaktionsmitgliedern in „Le Monde“ die Umwandlung des Satiremagazins von einer Aktiengesellschaft in eine Genossenschaft, um nicht „dem Gift der Millionen“ zu erliegen. Zu den Unterstützern zählt auch Notarzt und Kolumnist Patrick Pelloux, der am Wochenende ankündigte, Anfang 2016 die Redaktion zu verlassen. Pelloux, der nach dem Anschlag vergeblich versuchte, seine Kollegen zu retten, erklärte, er wolle nicht mehr ständig darüber reden müssen. Auch habe er „nicht länger den Mut, jede Woche weiterzumachen“. Herausgeber Laurent Sourisseau äußerte nüchtern Verständnis und nährt so nach den angekündigten Rückzügen von Luz und Pelloux sowie der kurzzeitigen Suspendierung der Autorin Zineb El Rhazoui die Spekulationen um einen tiefen Graben zwischen Teilen der Redaktion und der Geschäftsführung.

Mit „Katharsis“ lässt Renald Luzier all das hinter sich, das Album ist sein Befreiungsschlag. Indem er seiner kaputten Seele Raum gibt, heilte er sie – mit jedem Strich ein wenig mehr.

Zeichner Luz. In der Hand hält er das berühmte Titelblatt "Je suis Charlie".
Zeichner Luz. In der Hand hält er das berühmte Titelblatt "Je suis Charlie".

© Yoan Valat/epa

In dem intimen Journal beschreibt er seinen Weg aus dem Tal der Tränen zurück zu den Gipfeln der Ironie. Etwa indem er den demütigenden „Kloß im Bauch“ kurzerhand Ginette tauft, um die Oberhand über ihn zu gewinnen, oder die Terroristen als kindische Streithähne an den Zeichentisch setzt, um sie die Unschuld einer Zeichnung begreifen zu lassen. Er erzählt aber auch, wie er sich mit dem Magazin, das ihm viele Jahre sein Leben bedeutete, das Leben nehmen und seine Wohnung in Brand stecken wollte. Seine Frau Camille verhinderte die Katastrophe. In Luz’ bewegender Geschichte, seiner Suche nach sich selbst, spielt sie die Hauptrolle. „Oft gezeichnet, täglich begehrt, ewig geliebt“ – das Album ist auch eine Liebeserklärung an die Frau, die ihn durch seine dunkelsten Stunden begleitet hat.

Sie sah dann auch, dass sich die fassungslosen Strichmännchen der ersten Seite irgendwann auf den Weg gemacht haben und nicht mehr wie angewurzelt in der Wirklichkeit stehen. „Wir, das Zeichnen und ich, haben uns gesagt, dass wir nie wieder dieselben sein werden.“

Vor allem aber haben sie sich wiedergefunden, der Zeichner und die Zeichnung.

Luz: Katharsis. Aus dem Französischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. S. Fischer. 128 Seiten, 16,99 €.

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