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Die britische Rapperin und Dichterin Kate Tempest, 30.

© imago/ZUMA Press

Kate Tempest und ihr erster Roman: Knurrende Kinder, lächelnde Hunde

Der britische Rapperin Kate Tempest ist mit „Worauf du dich verlassen kannst“ ein packender Debütroman gelungen. Außerdem erscheinen ihre Gedichte erstmals auf Deutsch.

Ein Auto voller Aufregung. Und ein Koffer voller Geld. Drei junge Leute auf der Flucht. Sie müssen raus aus London in dieser Nacht, in der sich alle Kreise geschlossen haben und alles eskaliert ist. Leon und Becky sitzen vorn, Harry hinten. Sie schweigen, doch ihre Panik, ihre Leidenschaft und ihr Irrsinn rasen dröhnend zwischen ihnen umher.

„Abhauen“ heißt dieses fulminante Kapitel, mit dem Kate Tempest ihr Romandebüt „Worauf du dich verlassen kannst“ eröffnet. Dass es – wie das gesamte Buch – so packend geraten ist, könnte damit zusammenhängen, dass die 30-jährige Autorin nicht zum ersten Mal über das Trio schreibt: Mit einer kürzeren Version dieser Fluchtgeschichte endet 2014 Kate Tempests erstes Soloalbum „Everybody Down“, auf dem sie in zwölf Rap-Songs von vier jungen Londonern erzählte. Die hervorragende Platte wurde für den Mercury Prize nominiert, mit dem Soundcheck Award ausgezeichnet und katapultierte die kleine Frau mit den langen rotblonden Locken und dem riesigen Sprachtalent in den Fokus der Popwelt.

Der Roman ist eine Art Maxiversion der Platte, ein Remix mit vielen zusätzlichen Details und einigen Bonus-Tracks. Die Grundzüge der Geschichte hat Kate Tempest, die eigentlich Kate Calvert heißt, beibehalten. Einige Kapitel tragen die gleichen Titel wie die Songs, manche Zeilen daraus tauchen wörtlich wieder auf. Trotzdem werden sich Fans des Albums bei der Lektüre nicht langweilen – im Gegenteil: Sie bekommen ja mehr vom hochenergetischen, warmherzigen Tempest-Sound, den Karl und Stella Umlaut kompetent ins Deutsche übertragen haben. Außerdem hat das Buch größere Tiefenschärfe.

Harry und Leon sind Dealer, Becky tanzt und kellnert

So wirkt etwa der Süd-Osten Londons, wo die Handlung angesiedelt ist, deutlich plastischer. Mit schnellen, präzisen Sätzen skizziert Tempest das Sprachengewirr auf den Straßen, die Vielfalt der Läden und Pubs. Eine „Schmuddelwelt aus gedrungenen Backsteinhäusern, kaputten Fensterrahmen, rußgeschwärzten Fassaden. Knurrende Kinder. Lächelnde Hunde.“ Auch die beginnende Gentrifizierung der Gegend, in der die Autorin als jüngstes von fünf Kindern einer Lehrerin und eines Anwalts aufwuchs und immer noch lebt, scheint schon auf.

Der Vater der Roman-Protagonisten Harry und Pete ist ebenfalls Anwalt. Einer, der sich um arme Leute und hoffnungslose Fälle kümmert. Seine Frau hat einen neuen Mann, seine Kinder führen beide ein Außenseiter-Leben: Pete, der noch bei ihm wohnt, ist arbeitslos und knallt sich mit Drogen und Alkohol weg. Harry, anders als auf der Platte eine Frau, arbeitet zusammen mit ihrem Kindheitskumpel Leon als Koks-Dealerin der High Society.

Der Zauber der ersten Begegnung

Unabhängig voneinander lernen die Geschwister die Tänzerin Becky kennen – und beide begehren sie. Als Harry die 26-Jährige mit den dunklen Haaren das erste Mal sieht, ist sie geblendet: „Die Frau leuchtet so grell in Harrys Augen. Sie explodiert aus sich selbst heraus wie ein Feuerball. Heller und heller.“ Tempest stapelt noch ein paar Blitze- und Hitze-Vergleiche obendrauf, was in seiner absichtsvollen Übertriebenheit sehr trefflich zu Harrys meist hinter ihrer Tomboy-Coolness verborgenen Emotionalität passt.

Der Zauber der ersten Begegnung ist ein wiederkehrendes Motiv in „Worauf du dich verlassen kannst“. Man kann es als Liebesbeweis von Tempest an ihre Figuren sehen, die ansonsten wenig zu lachen haben am unteren Ende der britischen Klassengesellschaft. Besonders deutlich spiegelt sich das in Beckys Geschichte: Obwohl sie erfolgreich eine Tanz-Ausbildung abgeschlossen hat, findet sie kein festes Engagement, sondern muss im Schnellrestaurant ihres Onkels arbeiten und lässt sich zudem als erotische Masseurin buchen.

Stimme ihrer Generation? Sicher nicht. Kate Tempest ist Außenseiterin

Die britische Rapperin und Dichterin Kate Tempest, 30.
Die britische Rapperin und Dichterin Kate Tempest, 30.

© imago/ZUMA Press

Eines Morgens fühlt sie sich, als sei sie in einem ewigen Kreislauf des Scheiterns gefangen: „Sie sieht sich, wie sie die nächsten 20 Jahre hinter dieser Theke steht, zwischen Wohnung, Casting Calls und Auditions für Jobs hin- und herhetzt, bei denen sie nicht angenommen wird, den verpassten Chancen, dem Kuchen, dem Püree und dem Pub, den Verletzungen und ihrem Körper im Spiegel. Wie sie ihr Facebookprofil mit immer neuen glücklichen Fotos aktualisiert, sie lächelnd in ihrem hautengen Paillettenlook, wie sie Diva- Woche bei X-Factor guckt, wie sie Kurze kippt, Lines zieht, Pillen einschmeißt und Freunde umarmt, als wäre alles bestens, alles bestens.“

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Diese Passage –  man kann sie sich gut als Spoken Word Performance von Kate Tempest vorstellen – wirkt wie der Ausschnitt eines Generationenporträts. Und weil das für viele Texte der Autorin gilt, wird sie immer wieder zu einer Art Klassensprecherin ihrer Altersgenossinnen und -genossen erklärt. Doch dafür steht Kate Tempest viel zu weit abseits, ist sie zu eigen. Sie verfügt einfach über eine sehr gute Beobachtungsgabe und ein überdurchschnittliches Ausdrucksvermögen. Geschult hat sie es, seit sie mit 16 begann bei Open-Mike-Abenden aufzutreten – als queere weiße Frau in einer männerdominierten, homophoben, von Schwarzen begründeten Kultur. Ihr Weg war hart und lang. Sie ist kein Internet-Phänomen und kein Social-Media-Junkie. Mit ihrer Vorliebe für griechische Mythologie, die sich in Theaterstücken und Gedichten niederschlägt, dürfte sie in ihrer Generation überdies einer Minderheit angehören.

In ihren Gedichten greift Kate Tempest antike Mythen auf

In ihrem Langgedicht „Brand New Ancients“, mit dem sie 2012 den Ted- Hughes-Preis gewann, einer der wichtigsten Lyrikpreise Großbritanniens, machte Tempest klassische Götter zu zeitgenössischen Londonern. Ähnlich geht sie nun in ihrem Gedichtband „Hold Your Own“ vor, der Mitte Juni in einer zweisprachigen Ausgabe erscheint. Darin befasst sie sich in mehreren Gedichten mit dem blinden Propheten Teiresias, der zwei Mal das Geschlecht wechselte – eine Figur, die kürzlich auch Sasha Marianna Salzmann zu ihrem Gorki-Stück „Meteoriten“ inspirierte. Meist in freien Versen, gelegentlich in Reimen geht es außerdem um Autobiografisches, Liebe und das Schreiben. Auch Tempests Humor blitzt hier immer wieder auf, wenn sie schreibt: „Fältchen halten leise einen Schwatz auf deinen Zügen./ Die Wärme, die du von dir gibst, wird dieses Haus gut heizen.“ Oder wenn sie einen Ginsberg zitierenden „Seufzer“ ausstößt: „Ich sah die besten Köpfe meiner Generation an/ Ratenzahlungen zugrunde gehen.“

Mit Raten schlagen sich Becky, Harry und Pete zwar nicht herum, finanzielle und familiäre Probleme tragen sie allerdings säckeweise mit sich herum. Deren Genese erhellen Rückblenden in die Vorgeschichten ihrer Eltern, die jedoch größtenteils bemüht wirken und das Tempo unnötig drosseln. Nur bei Beckys Eltern – einer jüdischen Fotografin und einem binationalen politischen Autor – überzeugt die Schilderung der elterlichen Biografien, sie lassen sogar kurz an Zadie Smith’ „White Teeth“ denken. Der Vater hat ein legendäres aber verbotenes Buch geschrieben, es heißt „Wie wir die Macht übernehmen können, ohne dass die Macht uns übernimmt“ – das wäre auch ein guter Titel für ein Gedicht von Kate Tempest. Die antiken Götter können in Sachen Machtübernahme sicher helfen.

Kate Tempest: Worauf du dich verlassen kannst. Aus dem Englischen von Karl und Stella Umlaut. Rowohlt Verlag. Reinbek 2016, 400 S., 14,99€. Lesung in Berlin: 31.5., 20 Uhr, Lido, Cuvrystr. 7.

Kate Tempest: Hold Your Own. Gedichte. Aus dem Englischen von Johanna Wange. Suhrkamp Verlag. Berlin 2016, 230 Seiten, 16 €. (erscheint am 13.6.)

Sehen Sie hier einen Videobericht der Soundcheck-Award-Verleihung an Kate Tempest:

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