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Wortgewaltig. Kate Tempest, 27.

© Big Dada

Kate Tempest: Ein Blitz schlägt ein

Die britische Poetin und Rapperin Kate Tempest hat mit "Everybody Down" ein umwerfendes Album herausgebracht, das von drei jungen Londonern erzählt.

Becky ist genervt. Auf dieser Party wimmelt es von aufgetakelten Tussis und aufgeblasenen Idioten. Immerhin steht da drüben ein Typ, der ganz hübsche Augen hat. Sie quatscht ihn an. Er heißt Harry, ist begeistert von ihr, redet viel, schaut sehnsüchtig. „Becky’s holding tight to her glass/ Good coke, brain fast./ She watches his face as he talks./ Little bump on her fingertips/ Expert. Quick snort./ Sucking on a cigarette, feeling vaguely bored.“ Das wird wohl nichts mit ihr und diesem Dealer. Und da kommen auch schon Beckys Freundinnen und zerren sie in ein Taxi.

Ein flickerndes Nachtlebendrama, erzählt in fünfeinhalb Minuten von der 27-jährigen Kate Tempest. Es trägt den Titel „Marshall Law“ und ist die fesselnde Eröffnung ihres gerade erschienenen Albums „Everybody Down“, eine der herausragenden Hip-Hop-Platten dieses Jahres. Die Londonerin mit den langen blonden Locken feuert ihren Sprechgesang darin mit solcher Vehemenz, Autorität und Präzision über die Beats, dass Weghören schier unmöglich ist. Das gilt für alle zwölf Stücke, die die Geschichte von Becky, Harry und dessen Bruder Peter in losen Kapiteln fortspinnen. Man erfährt, dass die willensstarke junge Frau als „Masseurin“ arbeitet und dabei gut verdient. Sie beginnt eine Beziehung mit dem arbeitslosen Peter, der ein Problem mit ihrem Job und seinem Selbstbewusstsein hat. Derweil überfällt Harry mit seinem besten Freund einen Drogenboss.

Kate Tempest braucht ähnlich wie Mike Skinner von The Streets, mit dem sie zu Recht häufig verglichen wird, nur wenige Zeilen, um eine packende Szenerie zu skizzieren. Sie schreibt meist aus Sicht einer allwissenden Erzählerin, die ihren Fokus ständig ändert. Mitunter rappt sie in verteilten Rollen, ein paar Mal auch von einer männliche Stimme unterstützt. Diese Multiperspektivität macht das Album so unterhaltsam. Sie spiegelt überdies das mehrmals auftauchende Thema Relativität. So heißt es im zwei Mal hintereinander gesungenen Refrain des Eröffnungsstücks: „It’s true if you believe it/ The world is the world/ But it’s all how you see it./ One man’s flash of lightning ripping through the air/ Is another’s passing glare, hardly there.“ Im nächsten Stück lässt Tempest diese Zeilen noch einmal auftauchen.

Überhaupt kümmert sie sich wenig um herkömmliche Songstrukturen, bei ihr kommt immer die Story zuerst. In „Chicken“ beispielsweise erzählt sie über einer verstörend dräuenden Synthiefläche von einem Abendessen mit Harry, seiner Mutter und deren neuem Lover. Harry mag ihn nicht („Face like a pill head at the end of a rave“). Als seine Gedanken zu Becky schweifen, nimmt das Stück auf einer schnell pulsierenden Bass-Drum Fahrt auf. Erst ganz zum Schluss kommt Tempest zu einem fazithaften Refrain – früher ging es einfach nicht, er hätte den Erzählfluss gestört.

Als Teenager jobbt Kate Tempest in einem Plattenladen

Wie ihre unterprivilegierten Figuren stammt Tempest aus einer ärmlichen Gegend im Süden Londons. Sie hat sechs Geschwister, ihr Vater – ein Anwalt – arbeitete hart, um sie alle durchzubringen. Kate hängt viel im Plattenladen ab, hört Wu-Tang Clan, Roots Manuva, Ragga, Dancehall, R’n’B. Irgendwann beginnt sie in dem Laden zu jobben und selber zu rappen. Fanatisch arbeitet sie an ihren Texten, erkämpft sich an Rap-Abenden und Poetry Slams das Mikro und den Respekt des Publikums. Später besucht sie die Brit School for Performing Arts, auf der auch Amy Winehouse und Adele waren.

Mit zwei Mitstreitern gründet Tempest 2008 die Band Sound of Rum, die drei Jahre später das Album „Balance“ herausbringt. Ihr Rap-Talent ist auch hier schon unüberhörbar, doch erst jetzt, nachdem sie laut eigener Einschätzung mehr als ein Lebensjahr auf Bühnen verbracht hat, gelangt ihre Kunst zu voller Blüte. Vor einem Jahr hat sie mit ihrer Spoken-Word-Performance „Brand New Ancients“ den bedeutenden Ted Hughes Award für Innovation in der Dichtung gewonnen. Und jetzt mischt sie mit „Everybody Down“ den Hip-Hop mächtig auf. Daran hat auch Produzent Dan Carey einen großen Anteil, der für das Album ein Soundfundament aus extra tief grollenden Beats und Bässen sowie gezielt gesetzten Electro-Einsprengseln gebaut hat. Alles steht im Dienste von Tempests Texten. So wird etwa das Synthiebass-Flackere in „Marshall Law“ jedes Mal heruntergefahren, wenn die Erzählperspektive von Becky zu Harry wechselt – und umgekehrt. Carey setzt effektive, nie übertriebene Akzente. Dazu gehört auch, dass er Kate Tempests Stimme bei den Refrainzeilen konsequent doppelt.

Mit „The Beigeness“ gibt es sogar einen herkömmlich angelegten, radiotauglichen Song auf dem Album. Die von einem echten Bass und einer angezerrten Gitarre begleitete Up-Tempo-Nummer hat einen tollen Pop-Vibe – ähnlich wie es Lady Sovereign oder Speech Debelle in ihren stärksten Momenten hinbekommen haben. Während dieses Songs, in dessen Video man übrigens einen vollbärtigen Mann in Frauenkleidern bewundern kann, haben Becky & Co. einmal Pause. Es geht hier eher assoziativ um Wahrheit, Lüge und Bedeutung im Zeitalter von Fake.

Ein Wiedersehen mit den Figuren wird es im kommenden Jahr geben. Kate Tempest schreibt gerade an ihrem Debütroman, der bei Bloomsbury erscheinen wird. Die Handlung setzt eineinhalb Jahre nach dem Album ein und stellt in Rückblenden alle Eltern der Figuren vor. Das ist sicher spannend, allerdings wird man beim Lesen Kate Tempests Stimme und ihren Flow vermissen. Hoffentlich macht sie ein Hörbuch daraus, oder noch besser: ein neues Album.

„Everybody Down“ ist bei Big Dada/Ninja Tune erschienen.

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