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Zwei Schwestern. Suzanne (Sara Forestier, links) und Maria (Adèle Haenel).

© dpa

Junges französisches Kino: "Suzanne": Gehäuse des Glücks

Junge Regisseurinnen erobern das französische Kino mit realistischen und zugleich fantasievollen Filmen. Katell Quillévéré erzählt in "Suzanne" vom wildbewegten Schicksal einer jungen Mutter - und schafft ein brillantes Porträt.

Viel Anlauf nimmt der Film nicht in die Geschichte zwischen Suzanne (Sara Forestier) und Julien (Paul Hamy), die da plötzlich aufschlägt in zwei jungen Leben und einschlägt in irgendwie sortierte Familienverhältnisse. Ein erster Blick- und Wortwechsel beim Pferderennen in der Provinz. Ein erster Kuss in hässlicher Unterführungstunnelröhre, dringend drängen sich da zwei von der Sonne in den Schatten. Erste Nachmittagsstunde in der ersten Etage des Stadthotels, klar, und erster Sex.

Dann aber lässt Katell Quillévéré, die diese filmgewordene Betörung namens „Suzanne“ (überexpliziter deutscher Titel: „Die unerschütterliche Liebe der Suzanne“) gedreht hat, plötzlich die Zeit stehen. Aus dem Hotel heraus beobachtet die Kamera den ersten kleinen Abschied der beiden, es hat geregnet, die Obstsaftflaschen vor den Läden leuchten wie gewaschen, Leute sind unterwegs, das Paar geht auseinander, Suzanne rennt zurück ins Bild, lässt sich auffangen von Julien und herumwirbeln, läuft davon und noch einmal hinein in seine Arme und davon. Und die Kamera folgt den unsteten Bewegungen, oder sind es die Fensteraugen des Zimmers selber, das dem Glück da eben noch Gehäuse war.

Verantwortungslos und verliebt

Auf ein sauber dahinhäkelndes Erzählen also ist das hier nicht aus, im Gegenteil. Der Film springt hinein in seine Welt, hält sich auf, lässt Jahre aus, verfängt sich, betrachtet geduldig eine Fähre, die sich vom Ufer entfernt, lässt ein Gerichtsurteil verlesen und liest einstweilen in Gesichtern, Schwarzblende, und plötzlich hat Suzanne ein zweites Kind. Das erste, Charlie, hat sie bekommen, da war sie selber kaum 17, das war drei, vier Jahre vor dieser Geschichte mit Julien. Gut nur, dass es Suzannes Vater gibt, Nicolas (François Damiens), der kümmert sich, wenn er nicht gerade mit seinem Lastwagen unterwegs sein muss. Und gut, dass es Maria (Adèle Haenel) gibt, Suzannes kleine Schwester, oder ist sie, weil so viel vernünftiger als Suzanne, die große.

Maria gibt ihren Näherinnenjob in der nächsten oder übernächsten Stadt nicht gleich auf, bloß weil sie sich eben mal verliebt. So was macht Suzanne. Suzanne, das Nichtmuttertier, die Verantwortungslose, die überhaupt Lose. Und als der Vater sie einmal anbrüllt und zurückbeordern will in ihr Telefonistinnendasein in der Spedition, ist sie weg. Mit dem hübschen Julien, wie man vermuten darf. Und verschwunden aus der Familie, aus der sie kommt, und auch aus jener, der sie, nun ja, formal alleinerziehend vorsteht, abgehauen aus ihrer Verantwortung für Charlie. Zu dessen Vaterlosigkeit kommt nun die Mutterlosigkeit hinzu. Oder doch nicht?

Immer wieder lädt „Suzanne“ listig realistisch ein ins Sozialabgrundklischee, um den Vorstellungen, wie derlei Filme und Realitäten bitte zu sein haben, eine lange Nase zu drehen. Kann man jemanden lieben, den man verlässt? Durchaus. Kann man jemanden weiterlieben, der einen in den Knast bringt? Sicher doch. Kann man ein Verhältnis sprengen und doch zu lieben nicht aufhören? Geht alles, in „Suzanne“ und, bei genauerem Hinfühlen, auch sonstwo genauso.

Zählt man ein erstes Bild hinzu – Suzanne mit acht oder neun, tanzend bei einer Schulaufführung –, gehen diese 90 Minuten über satte 20 Jahre. Keineswegs eilig, sondern so, wie man sich auch selber in 90 Minuten an 20 Jahre erinnern kann, an das Wesentliche. Für den Rest gibt’s die Schwarzblende. Am Ende hat Suzanne anderthalb Familien, zusammengesetzt aus drei halben, das ist schon mal was, und dazu, wahrscheinlich, eine Liebe. Und auf ihrer Lebensreise zwischen Freiheit und Gefangenschaft und Freiheit und Bindung und Freiheit ist sie gerade mal wieder zwischendrin.

Blick für das Menschenmögliche

Wer gern schnell urteilt, wird manches unglaubwürdig finden. Aber wer weiß schon, was alles möglich ist an Menschenmöglichem zwischen Menschen, nur weil man es für sich selber nicht für möglich hält? Am umwerfendsten sind die Abschiede, nichtendenkönnende wie das Hin und Her an den Obstläden nach dem Regen. Und welche ganz kurz, Umarmung genügt. Und spätere Wiedersehen, die einfach da sind, in aller Stille, und Leute sehen bloß Leuten in die Augen.

Katell Quillévéré, Kind bretonischer Eltern, ist an der Elfenbeinküste aufgewachsen und jetzt Anfang 30 wie andere tolle neue französische Regisseurinnen, Céline Sciamma oder Rebecca Zlotowski oder Mia Hansen-Løve. Vor vier Jahren hat Katell Quillévéré ihren ersten Film gedreht, er kam in Deutschland nicht ins Kino, aber wer von der wundersonderbaren „Suzanne“ gekostet hat, ist bestimmt auch für „Ein starkes Gift“ zu haben. Das von „Suzanne“ macht die Welt bunt, schenkt ihr Musik und Schweigen und einen Schmerz, den man aushalten will, weil er gleich wieder in Glück umschlägt, Zukunft zum Beispiel.

Irgendwo im Internet steht, in zwei, drei Sätzen, Katell Quillévérés kraftvolles Glaubensbekenntnis: „Schöpferisch sein, das heißt, dem Realen etwas zu entreißen, das uns überlebt. Und das ist sehr viel aufregender als die Refugien, die die Religion zu bieten hat. Es ist eine Art, Nein zum Tod zu sagen.“ Wow! Und wie das den üblichen Unsterblichkeitsbegriff davonschwemmt! Nicht vergessen werden, wenn man tot ist? Ach was. Nein – und auch davon erzählt „Suzanne“ –, das Leben hört einfach nicht auf.

In Berlin im Cinemaxx und Filmkunst 66; OmU: Babylon Mitte und fsk

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