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Verwurzelt. Jüdischer Imbissladen in der Rue des Rosiers im Pariser Stadtviertel Marais.

© mauritius images

Juden in Frankreich: Frankreich ist nicht antisemitisch

Anschläge, Terror, Gewalt, islamischer und traditioneller Antisemitismus - das ist nur die eine Seite jüdischen Lebens ins Frankreich. Die Mehrheit der französischen Juden will trotzdem bleiben.

Es gibt Antisemitismus in Frankreich, aber Frankreich ist nicht antisemitisch. Judenhass existiert in bestimmten Zonen, während man in andern völlig unbehelligt leben kann. Das ist eine Variante der Judenfeindschaft, für die es kein historisches Beispiel gibt: Stadtteilantisemitismus. Er entstand zur Zeit der zweiten Intifada und hat nichts mit dem epidemischen Rassenhass der Dreyfus-Affäre zu tun, der sich ja gleichmäßig auf die ganze französische Gesellschaft verteilte, auch nichts mit dem Staats-Antisemitismus der Kollaborationsregierung von Vichy, die die Juden zu Parias erklärte und die Nürnberger Gesetze ausrief, bevor die deutschen Besatzer es verlangten. Dies ist kein Rassismus, den Frankreich erzeugte, sondern ein importierter. Anfangs begleitete er stichflammenartig die Intifadas und kriegerischen Invasionen Israels im Westjordanland und Gazastreifen – und erlosch auch mit ihnen. Sein Zentrum waren die Banlieues, in denen bis heute der Irrglaube herrscht, in jedem Juden stecke ein Israeli (ein Missverständnis, das von der israelischen Regierung nach Kräften gefördert wird), was zu Pöbeleien, Schlägereien, Brandstiftung in jüdischen Geschäften und Synagogen führte – aber das religiöse Element, der tief innen brütende Hass, das Mörderische fehlte noch.

Der muslimische Antisemitismus, der sich nicht nur von den aus Syrien und Irak per Internet importierten Religionskriegen nährt, sondern vor allem von der ausweglosen Situation der Heranwachsenden in den Vorstädten Frankreichs, hat eine Geschichte, die bis zum bürgerkriegsähnlichen Aufstand in den Banlieues zurückreicht. „Abschaum“ nannte der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy ihre Bewohner und versprach, ihn „mit dem Kärcher“ zu säubern(vgl. meinen Aufsatz „Die Zunge hat keine Knochen“ im Tagesspiegel vom 24. 11. 2005). Die Antwort: Straßenschlachten in ganz Frankreich! Turnhallen, Autos, Kindergärten gingen in Flammen auf, vor Wut zertrümmerten die Aufständischen ihre eigenen Viertel. Das Warnsignal verhallte ungehört. Nichts geschah. Die Jugendarbeitslosigkeit ging seit den zehn nutzlos verschleuderten Jahren um keinen Punkt zurück. Nur die Hoffnungslosigkeit nahm zu. Die Mörder von Toulouse und Paris waren Gescheiterte, Kleinkriminelle, im Knast Radikalisierte.

"Ich habe keine Juden gerettet. Ich habe nur Menschen gerettet"

Es ist zwar Mode, soziologische Erklärungen für verstaubt zu halten und stattdessen tiefschürfende Reflexionen über die inhärente Gewalt des Korans anzustellen (war nicht schon Abraham bereit, auf Befehl Gottes seinen Sohn zu schlachten?), aber der Islamismus hat die Gewalt nicht erzeugt, sondern kanalisiert. Im Übrigen sind die Menschen frei, sich zu ihrer Religion zu verhalten. Der Mann, der das Massaker im Pariser Hypermarché Cacher anrichtete, war malischer Herkunft, und Lassan Bathily, der im Keller mehrere jüdische Kunden rettete, war gleichfalls Malier. Er arbeitete im jüdischen Supermarkt und betete fünfmal am Tag Richtung Mekka. Es war derselbe Islam, auf den sie sich beriefen. Nein, nicht derselbe! Der junge Retter führte für seine Tat nicht den Islam ins Feld. Gefragt, woher er den Mut und die Geistesgegenwart genommen habe, die Geiseln im (von ihm vorher abgeschalteten) Kühlraum zu verstecken, sagte er, er habe nicht lange nachgedacht, sondern auf sein Herz gehört. Und fügte ein paar Sätze hinzu, die man an den Sternenhimmel schreiben könnte: „Ich bin kein Held. Ich habe keine Juden gerettet. Ich habe nur Menschen gerettet.“

In den letzten Wochen schien es mir, als gäbe es zwei Frankreichs, jenes Frankreich, von dem die Medien berichten, und das Frankreich, das ich vor meinen Augen sehe. Das Frankreich der Schmierereien an Synagogen, der Kinder, die ihre Kippas verstecken, der Familien, die panikartig nach Israel flüchten – und das Frankreich, das mir am Place de la République begegnet: Alte Männer reden lautstark jiddisch, am Schabbes spazieren die Gläubigen mit Käppchen und Schläfenlocken gut gelaunt an meinem Haus vorbei, und im nahen Belleville existieren seit Jahrzehnten die algerischen und tunesischen Couscous-Restaurants friedlich neben den koscheren.

Die Anschläge sollten die Gemeinschaften gegeneinander aufhetzen und den Staat in einen Bürgerkrieg ziehen

Diese beiden Frankreichs befinden sich in derselben Stadt, und man kann nicht einfach sagen, dass der Bruch zwischen ihnen die reichen von den weniger wohlhabenden Vierteln trennt (obschon es stimmt, dass die schweren antisemitischen Ausschreitungen die begüterten Viertel verschont haben, in denen bekanntlich diskreter gehasst wird). Nein, gerade in den Vorstädten, in denen sich die maghrebinischen Juden niedergelassen haben, etwa im „kleinen Jerusalem“ Sarcelles, wo von 60 000 Einwohnern 15 000 jüdischer Abstammung sind, gab es eine spannungsfreie Koexistenz, bis auf einmal von Unbekannten ein jüdisches Lebensmittelgeschäft mit einer Handgranate und die Synagoge mit einem Molotowcocktail attackiert wurde. An der Porte de Vincennes waren, bis zum Massaker im jüdischen Supermarkt am 9. Januar, die nachbarschaftlichen Beziehungen besonders herzlich; man wünschte sich ein „schönes Chanukka“ oder einen „guten Ramadan“, lud sich gegenseitig zum Essen ein, arbeitete in den Geschäften der andern. Eben dieses gute Einvernehmen sollten die Anschläge zerstören.

Ihr Sinn ist, die Gemeinschaften gegeneinander aufzuhetzen und den Staat, dessen Soldaten und Polizisten gleichfalls Opfer blutiger Attentate waren, in einen Bürgerkrieg hineinzuziehen. Die fünf Millionen Muslime, die in Frankreich leben, wären dafür ein unerschöpfliches Reservoir – wenn sie sich bisher nicht erstaunlich ruhig und staatstreu verhalten hätten. Bisher haben sie sich in ihrer Mehrheit, trotz der Angriffe auf ihre Moscheen und Institutionen, die seit Januar dramatisch zunehmen, und trotz der Entflammbarkeit der religiösen Gefühle, nicht zu gewaltsamen Aktionen verführen lassen.

Der islamische Antisemitismus hat alle Klischees des traditionellen Antisemitismus integriert

Verwurzelt. Jüdischer Imbissladen in der Rue des Rosiers im Pariser Stadtviertel Marais.
Verwurzelt. Jüdischer Imbissladen in der Rue des Rosiers im Pariser Stadtviertel Marais.

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Man vergisst leicht, dass es noch den „traditionellen“ Antisemitismus gibt. Er scheint zu schlafen, aber hat, wie jeder Vulkan, immer ein Auge offen. Zuweilen verbinden sich die beiden „Antisemitismen“ zu einem gefährlichen Gemisch, ja der islamische Antisemitismus hat inzwischen alle Klischees des französischen integriert – wie die stupide Vorstellung, dass alle Juden reich seien, die dazu führte, dass der junge Ilan Halimi, der am Boulevard Voltaire Handys verkaufte, Anfang 2006 von der „Gang der Barbaren“ in einer Banlieue fürchterlich zu Tode gequält wurde, weil seine Eltern das Lösegeld von 450 000 Euro nicht bezahlen konnten. Anfang 2014 hörte man dann in einer Demo, der 17 000 Anhänger folgten und die sich, wie eine berühmte mittelalterliche Totenmesse, „Tag des Zorns“ nannte, den seit 1945 ungehörten Ruf: „Juden raus aus Frankreich!“ Tag des Hasses wäre treffender gewesen, denn an diesem 26. Januar, dessen äußerer Anlass die Kampagne gegen die Homosexuellenehe war, bekamen alle in Frankreich existierenden Minderheiten ihr Fett ab, Schwule, Juden, Araber, Zigeuner.

Es war eine gespenstische Szene, als fünfzig untereinander spinnefeinde Gruppierungen eine Prozession durch die Hauptstadt veranstalteten, die in einer Massenschlägerei mit der Polizei endete. Wobei katholische Traditionalisten und muslimische Anhänger des antisemitischen „Komikers“ Dieudonné bewiesen, dass Wölfe, die einander sonst zerfleischen, sehr wohl im Rudel jagen können.

Netanjahu möchte einen Exodus der Juden aus Frankreich herbeireden

War das bereits die verknotete Geburt eines „braunen Blocks“ oder eine noch unstabile chemische Verbindung? Eine persönliche gibt es schon, denn der Ehrenpräsident der Front National, Jean-Marie le Pen, der die Überlegenheit der weißen Rasse predigt, ist Taufpate der dritten Tochter des schwarzen Judenfressers Dieudonné, der sich rühmt, die „Quenelle“, eine neue Variante des Hitlergrußes, erfunden zu haben.

Die Mehrheit der Juden will nicht aus Frankreich auszuwandern. Es steht kein Exodus vor der Tür, den Netanjahu herbeireden möchte. In Interviews mit französischen Publikationen haben französische Juden erklärt, dass sie sich in Frankreich verwurzelt fühlen, dass ihre Urgroßeltern von der Französischen Revolution emanzipiert oder ihre Eltern während des Kriegs auf Dörfern, in Klöstern und Bauernhöfen gerettet wurden, dass sie nach dem Krieg, aus Polen oder Algerien kommend, mit offenen Armen aufgenommen wurden, dass die französische Gesellschaft ihrer Integration nichts in den Weg stellte, kurz: dass sie nun nicht anders als die übrigen Franzosen sind, Nationalisten oder Weltbürger, Tuchhändler oder Universitätsprofessoren, Unternehmer oder Wohnungslose, die um keinen Preis Frankreich verlassen wollen.

Niemand kann im Ganzen wissen, was sie denken, da nur 200 000 der 600 000 in Frankreich lebenden Juden (Schätzung des „Express“ vom Ende 2014) im CRIF, dem Dachverband der 63 jüdischen Organisationen, vertreten sind. Der CRIF steht rechts und unterstützt, als treuer Vasall, Netanjahus Politik in Israel. Sein Präsident Roger Cukierman nannte jüngst Marine le Pen, Chefin der rechtsextremen Front National, eine „hochanständige“ Frau, was diese am 1. März mit dem Vorschlag beantwortete, die französischen Juden sollten mit ihr zusammen den „islamischen Fundamentalismus“ bekämpfen. Aber „die“ französischen Juden gibt es nicht, jedenfalls nicht als homogene Schicksalsgemeinschaft – einmal abgesehen davon, dass es in glücklichen Tagen, die leider viele Jahre zurückliegen, vulgär war, in einem Zeitungsartikel oder einem Gespräch darauf hinzuweisen, ob einer Jude, Araber oder Sikh sei, da in der Republik nur der Citoyen gelte, und seine übrigen Eigenschaften und Überzeugungen in sein Privatleben gehören.

Das Entscheidende und historisch Neue ist: Der französische Staat steht hinter den Juden. Das ist ein fundamentaler Unterschied. In allen früheren Epochen, vom christlichen bis hin zum rassistischen Antisemitismus, war der Staat der Juden Feind. Doch auch die Gesellschaft ist ihnen nicht schlecht gesinnt. Kann man ein Land antisemitisch nennen, das vor nicht langer Zeit bereit war, den jüdischen Politiker Dominique Strauss-Kahn zu seinem Präsidenten zu wählen, hätte der nicht in New York ein Zimmermädchen angefallen? Ein Land, in dessen Redaktionen, Hospitälern, Fernsehanstalten, Gerichten und Ministerien sich Männer und Frauen jüdischer Herkunft tummeln? Die Mehrheit der Franzosen hat die Juden als gleichberechtigte Staatsbürger akzeptiert. Die Antisemiten sind in der Minderheit. Sie bleiben bedrohlich, manchmal sogar lebensbedrohlich. Aber Frankreich ist nicht antisemitisch.

Benjamin Korn lebt als Theaterregisseur und Essayist in Paris.

Benjamin Korn

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