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Weltenstürmer. Die Sex Pistols – Steve Jones (li.), Glen Matlock, Johnny Rotten, Paul Cook – lassen 1976 eine Dose Bier explodieren.

© picture alliance / dpa

Jon Savage über 40 Jahre Punk: "Mit 'God Save The Queen' begann eine Hexenjagd"

Zum Beginn des Berliner Pop-Kultur-Festivals: ein Gespräch mit Pophistoriker Jon Savage über das Leben in der absoluten Gegenwart und die Magie der Sex Pistols.

Mister Savage, vor vierzig Jahren begann die Punk-Revolution. Wo waren Sie?

Eigentlich absolvierte ich in Nordwestengland einen Jura-Kurs, um Rechtsanwalt zu werden. Gleichzeitig war ich so besessen vom ersten Album der Ramones, das gerade herausgekommen war, dass ich nichts anderes mehr hören konnte. Deshalb zog ich im Herbst zurück nach London, wo ich innerhalb eines Monats die Sex Pistols, The Clash und The Damned sah. So habe ich die Geburt des Punk miterlebt. Aber jeder, der sich damals für Popmusik interessierte, wusste, dass etwas geschehen, etwas Neues kommen würde. Das war zu spüren.

In Ihrem Tagebuch notierten Sie über das Clash-Konzert, die Besucher hätten „feindlich“ gewirkt und die Musiker „Lärm“ gemacht. Waren Sie verängstigt?

Nein. Was The Clash machten und wie die Zuschauer darauf reagierten, erschien mir in seiner ganzen Härte vollkommen logisch. Ich mochte ihre Musik sofort. Das entsprang keiner intellektuellen Entscheidung, sondern einem überwältigenden Eindruck. Die Clash waren einfacher zu verstehen als die Sex Pistols, sie standen ganz in der Tradition der Kinks und der Who. Es war die Fortsetzung dieses Mod-Dings aus London. Die Pistols waren komplizierter. Sie wirkten unglaublich attraktiv und im nächsten Moment total abstoßend. Sie verkörperten eine Dialektik, die den Clash fehlte.

Aber The Clash waren die besseren Musiker, oder?

Keineswegs. Am Anfang waren die Sex Pistols ihnen musikalisch überlegen. Der Mythos, dass die Sex Pistols ihre Instrumente nicht spielen konnten, ist genau das: ein Mythos.

Im Herbst 1976 begannen Sie, ein Punk- Konzert nach dem anderen zu besuchen. War das eine Sucht?

Ja. Aber mir war auch klar, dass ich Zeuge von etwas wurde, was bedeutungsvoll und stark mit dem Augenblick verbunden war. An der Universität hatte ich mich mit den griechischen und lateinischen Klassikern beschäftigt. Deshalb wollte ich, als ich Cambridge verließ, nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun haben. Mich interessierten die Gegenwart und die Zukunft. Punk schien das Einzige in England zu sein, das mit beidem zu tun hatte. Deshalb ging ich zu so vielen Punk-Shows, wie ich konnte. Manchmal drei in einer Nacht. Im April 1977 begann ich für ein Musikmagazin zu schreiben, da wurden die Konzertbesuche zu einem Job.

Der Punk-Slogan lautete „No Future“. Es ging darum, so schreiben Sie, die Intensität der Gegenwart zu spüren. Warum?

Das ist so in der Popkultur, darum geht es in jeder Form von Teenage-Bewegung. Denn so sind Teenager: Sie leben in der Gegenwart. Sie haben keine Vergangenheit, aber hoffentlich eine Zukunft.

Weshalb dann die Parole „No Future“?

Schwarzmalerei. Vollständig müsste der Spruch lauten: „Wir haben keine Zukunft – bis ihr aufsteht und etwas dafür tut.“

1976 wurden in Großbritannien 1,5 Millionen Arbeitslose gezählt, so viel wie nie nach dem Krieg. War Punk ein Aufstand der Chancenlosen?

Ursprünglich wirkte Punk unpolitisch, er war einfach Musik. Er entwickelte sich aus dem Pubrock von Bands wie Eddie & The Hot Rods und verstand sich als Negation des Hippietums und von allem, was vorher dagewesen war. Die Punks waren am Anfang ein Haufen Verrückter, keine Sozialisten, die eine Kampagne führen wollten. Aber als Punk im Spätherbst 1976 zu einem nationalen Phänomen wurde, begann er, diese wütende soziale und politische Kritik zu entwickeln.

Die Sex Pistols fühlten sich von der Gegenwart furchtbar gelangweilt. War das typisch?

Langeweile ist für Teenager schon immer ein Impuls zum Aufbegehren gewesen. England war in den späten siebziger Jahren sehr, sehr langweilig. Auch die Musik war öde. Wir reden über eine Zeit, in der das Internet und die sozialen Medien noch nicht existierten. Im Januar 1977 bin ich durch North Kensington gelaufen, einem damals noch heruntergekommenen, vollkommen trostlosen Stadtteil von London. Ich wollte dort Fotos machen. Das einzige Zeichen von Leben, das ich fand, waren Graffiti. Eines feierte The Clash. Nur die Mitglieder von zwei, drei Bands schienen damals lebendig zu sein.

Hätte es Punk ohne die Sex Pistols in England niemals gegeben?

England brodelte, Punk hätte es auf jeden Fall gegeben. Aber anders, vielleicht weniger spannend, weniger verspielt. Denn mit den Sex Pistols fing alles an, sie waren fantastisch und fungierten ähnlich wie der Rattenfänger von Hameln. Die Leute, die sie sahen, begannen sich wie sie zu kleiden, und viele Besucher kamen aus ihren Konzerten und gründeten eine eigene Band.

Punk, so lautet ein alter Vorwurf, sei in Wirklichkeit von Modemachern, Journalisten und Managern wie Malcolm McLaren erschaffen worden. War es bloß ein großer Rock-’n’-Roll-Schwindel?

Natürlich nicht. Einem Schwindel gelingt es niemals, die Gefühle und Sehnsüchte von so vielen Menschen zu erreichen. Punk hat das geschafft. Deshalb war er 1977 und 1978 auch kommerziell so erfolgreich, mit vielen Top-Ten-Plätzen in den Charts. Bei McLaren muss man unterscheiden zwischen dem, was er damals, und dem, was er später gesagt hat. Es ging ihm darum, seine Wichtigkeit für die Punk-Geschichte zu betonen.

Malcolm McLaren bemühte sich unentwegt, PR-Coups zu erschaffen, scheiterte aber meistens.

Manchmal war er auch erfolgreich. Mit ihrer Single „God Save The Queen“ schafften die Sex Pistols den internationalen Durchbruch. Das war Malcolm McLarens Meisterstück. Medienvertreter aus alle Welt kamen im Juni 1977 nach London, wo eine Million Besucher das 25-jährige Thronjubiläum von Queen Elizabeth feierten. Die Sex Pistols lieferten die perfekte Anti-Story dazu. Sie mieteten ein Boot, auf dem sie über die Themse fuhren und Musik machten, bis es von der Polizei geentert wurde. Viele Briten verstanden die Veröffentlichung von „God Save The Queen“ als Angriff auf den Staat und das Königshaus. Es begann eine Hexenjagd, die Band stieg zum Staatsfeind Nummer 1 auf. Heute wäre das nicht mehr möglich, da sind die Staatsfeinde keine Musiker mehr.

Sie waren damals mit den Sex Pistols auf dem Boot. Hatten Sie Angst?

Nein, ich war jung und voller Adrenalin. Dabei war die Aktion durchaus angsteinflößend: ein paar Dutzend Musiker, Journalisten und Fans gegen eine Million auf den Straßen, die die Königin feierten. Ein Freund von mir wurde verhaftet, wir hatten Mühe, die Kaution für ihn zusammenzubekommen.

Was ist für Sie die stärkste Szene, das wichtigste Ereignis in diesen Jahren?

Vielleicht der erste Auftritt der Sex Pistols in Manchester im Juni 1976. Es war ihr erstes Konzert, das von Fans organisiert wurde. Unter den Besuchern waren Peter Hook und Bernard Sumner von Joy Division, Mark E. Smith von The Fall, Morrissey und einige andere, die bald eigene Bands gründen sollten. Die Sex Pistols spielten großartig, man kann das auf einem Mitschnitt im Internet hören. Mit diesem Konzert begann die Geschichte des Punks außerhalb von London.

Viele Veteranen sagen: Punk ist nicht tot. Haben sie recht?

Punk lebt immer noch. Aber der London- Punk, über den wir gesprochen haben, der ist Geschichte.

Der Autor Jon Savage.
Der Autor Jon Savage.

© Edition Tiamat

Jon Savage, 62, ist der wichtigste Chronist der Punk-Bewegung. Sein Buch England’s Dreaming. Anarchie, Sex Pistols, das gerade in einer neuen Ausgabe in der Edition Tiamat erschienen ist, gilt als Standardwerk. Savage, der in London geboren wurde und in Cambridge studiert hat, gründete 1976 das Musikfanzine London’s Outrage und schrieb für Blätter wie Sounds und The Face. Für sein Buch Teenage über Jugendkulturen von 1875 bis 1945 wurde er gefeiert. Das jüngste Buch heißt 1966 – The Year the Decade Exploded. Für die Manic Street Preachers gestaltete Savage ein Albumcover. Beim Pop-Kultur-Festival erzählt und diskutiert Jon Savage am Mittwoch, 31. August (17.40 Uhr, Prachtwerk, Ganghoferstr. 2).

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