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PiL-Sänger John Lydon, 59.

© Imago

John Lydon im Interview: „Keiner kann Dekadenz so wie die Berliner“

Mit den Sex Pistols wurde John Lydon alias Johnny Rotten berühmt. Als Sänger von PiL kommt er jetzt nach Berlin. Ein Gespräch über Wut, Kommerz und England.

Mister Lydon, in Ihrer kürzlich erschienenen Biografie „Anger is an Energy“ erwähnen Sie, dass Sie während Ihrer Sex-Pistols- Zeit in Berlin waren. Sie seien von London geradezu hierher geflüchtet. Und Sie haben die Stadt damals geliebt. Lieben Sie Berlin immer noch?
Es ist jetzt etwas anders, aber damals in den Anfangsjahren war es für mich wahnsinnig aufregend. 24 Stunden nonstop Clubbing und Spaß. Ich kam mir vor wie auf einem Abenteuerspielplatz, der bewusst mit amerikanischem Geld gesponsert war, um die Russen zu ärgern. Es war sehr, sehr, sehr, sehr viel Spaß. Und ja, Sid Vicious und ich verbrachten ein paar Wochen in Berlin wegen des ganzen Drucks, der sich um die Pistols aufgebaut hatte. Ich fand es herrlich, absolut fantastisch. Keiner kann Dekadenz so wie die Berliner.

Sie werden diese Woche mit ihrer Band in Berlin auftreten, mit der Sie gerade das Album „What The World Needs Now“ veröffentlicht haben. Ihre Stimme klingt brüchig, schmerzvoll und wütend.
Wenn ich versuche, die Emotionen auszudrücken, die ich ehrlich fühle, dann bricht das aus tiefstem Herzen heraus. Aber ich betrachte dieses Album als eine Art „Johnny Romantico“. Wenn du eine Karriere hast, die sich über weit mehr als dreißig Jahre erstreckt, dann musst du dich öffnen und ein paar dunklere innere Geheimnisse preisgeben.

Ihre Arbeit findet im Plattenstudio und auf der Bühne statt. Wenn Sie zwischen den beiden Seiten entscheiden könnten, welche wäre es?
Ich denke, beides ist das Gleiche. Wir lieben es, live aufzutreten, aber das Geld, das wir damit machen, geht in das nächste Album. Wenn wir die Songs schreiben, sind wir uns unserer Tendenz bewusst, sie in einem sehr live-ähnlichen Format aufzunehmen. Weil da immer die Idee dahintersteckt, dass wir das Material einmal live spielen werden. Ich denke, dass es im Endeffekt immer um die Performance geht. Und die Idee, dass Songs, wenn sie einmal auf der Bühne angekommen sind, ihre Form verändern können.

Welche Rolle spielt das Publikum?
Es ist absolut unverzichtbar. Es ist die Kraft. Du spürst die Energie und du agierst entsprechend. Wir sind keine Hochzeitsband. Wir spielen keine Musikwünsche. Aber wir können uns ganz genau auf die Empathie des Publikums einstellen. Ich denke, dafür werden wir auch sehr geschätzt. Das PiL-Publikum ist ein wunderbares Nebeneinander verschiedener Kulturen in Bezug auf Alter, Herkunft, Überzeugungen und Hautfarben – so wie es sein sollte. Wir lassen Gewalt und Feindseligkeit draußen. In unseren heiligen Hallen gibt’s das nicht, nein danke. Wir sind hier um Freunde zu machen und Leute zu beeinflussen!

Und was beeinflusst die Musik von PiL heute?
Wir untersuchen Gefühle, die dann zu einer Art Bilderteppich werden und die Sounds komplementieren, genauso wie die Songtexte die Sounds ergänzen. Eins kann nicht ohne das andere funktionieren. Es ist ein sehr feines Netz, das wir zwischen uns gewoben haben.

Das frühe PiL-Werk war ungewöhnlich und subversiv, wurde aber trotzdem im Mainstream-Fernsehen gezeigt. Heutzutage scheint es so, als ob wir diese Vielfalt nicht mehr haben, sondern einen faden, breiten Mainstream. Finden Sie, dass wir dabei musikalisch ärmer werden?
Die Musikindustrie ist in sich zusammengefallen, gerade wegen dieser Forderung, dass alles mild und fade sein muss. Eigentlich wurde das von ihren Buchhaltern gefordert. Mittlerweile geht es nur noch ums Geldmachen, während die Labels früher mit der Idee starteten, dass es nur ums Musikmachen geht. Es ist wie beim Aufstieg und Fall des Römischen Reiches. Denn sobald man sich für Geld entscheidet, hat man all die anderen wunderbaren, kreativen Wege verbaut. Die beiden Dinge vertragen sich einfach nicht richtig.

Es ist schwer, sich dem kommerziellen Aspekt des Popgeschäfts zu entziehen.
Ja, aber ich bin immer so ehrlich und offen und echt geblieben wie nur möglich. Und ich bin immer noch hier, weil ich diese Maschinerie gemieden habe. Dafür werde ich auch oft nicht respektiert. Jetzt ist das Publikum kleiner, aber die Leute, die zuhören, hören aufmerksamer zu und nehmen etwas mit. Und die Bands, die von uns beeinflusst sind, sind wirklich großartige Bands.

Wut, so sagen Sie, ist eine Energie, die Sie in Ihrem Leben genutzt haben. Was macht Sie heutzutage wütend?
Die Vorstellung, dass Menschen keine faire Chance bekommen. Ich denke, dass ich die auch nicht hatte, als ich jung war. Du wurdest abgestempelt als „Du bist einer von denen“. Du bist auf der falschen Seite der Gesellschaft geboren. Ich mag Gleichberechtigung und Bildung für alle. Meine Einstellung war immer, dass eine Gesellschaft, die nicht auf ihre Kranken, Verwundeten und Arbeitslosen aufpassen kann, keine Gesellschaft ist, von der ich ein Teil sein möchte (ein Wasserkocher zischt im Hintergrund). Warte mal eine Sekunde… Ich mache mir die unvermeidliche, englische Tasse Tee. Manche Traditionen sollte man nie aufgegeben!

Sie haben irische Wurzeln, Ihre Stimme und Ihr Ausdruck jedoch wirken aber völlig englisch.
Nun, das ist einfach „Hello, welcome immigrants!“, weil man die Vorteile aus beiden Welten mitbekommt. Ohne den englischen Einfluss in meinem Leben wäre ich nur halb die Person, die ich heute bin. England war schon immer aus allen möglichen verschiedenen Dingen zusammengesetzt. Das wird auch so bleiben und jedes Land der Welt weiß das. Man muss neues Blut reinbringen.

Die Gegend, in der Sie als Kind gelebt haben, wurde abgerissen. Dort steht nun das Stadion des Arsenal Football Clubs.
Das ist wahnsinnig komisch! Ich meine, mein Vater zog uns alle in dem Geist groß, dass wir unsere lokale Mannschaft unterstützen sollten! Was ich über dieses neue Stadion denke? Nun, es ist ein Schandfleck. Die Menschen in der Gegend haben nichts davon. Sie können sich die Ticketpreise nicht mehr leisten. Und das ist ein großer Verlust für den Sport.

Sie sind bald 60. Gibt es Lebensweisheiten, die Sie weitergeben würden?
Ich glaube, genau das Gegenteil von „Hope I die before I get old“. Das ist komplett gegensätzlich zu meiner Lebensweise. Wenn ich hundert bin und die Arthritis anfängt, dann werde ich mich vielleicht ein bisschen entspannen, aber solange mein Hirn arbeitet, werde ich noch so manches beitragen.

Das Gespräch führte Mark Espiner. Eine englische Version finden Sie hier. Das PiL-Konzert am 15. Oktober im Columbia Theater ist ausverkauft.

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