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Ein Riss geht durch Deutschland. Joachim Lottmann schreibt in "Alles Lüge" über die angebliche deutsche Willkommenskultur.

© dpa

Joachim Lottmanns Roman "Alles Lüge": Querkopf aus Überzeugung

In seinem Roman „Alles Lüge“ reist Joachim Lottmann im Krisenjahr 2015 durch die Willkommensrepublik Deutschland – und perfektioniert das kreative Herumschwindeln.

„Alles Lüge“ beginnt mit einem albtraumhaften Urlaub im schuldengeschüttelten Griechenland, zeichnet dann die Eskalation der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 nach und endet im terrorgeschockten Südfrankreich. Joachim Lottmann macht in seinem neuen Roman nichts anderes, als die Ereignisse eines Jahres und ihre mediale Begleitmusik mitzuschreiben. Und natürlich die Debatten darüber im linksliberalen Freundeskreis seines Protagonisten Johannes Lohmer: lauter Autoren, Künstler, Medienmenschen. Mit Ironie und feinem Gespür für falsche Töne zeigt Lottmann die hysterische Willkommensrepublik Deutschland in ihrem Komödienpotenzial.

Lohmer kann es jedenfalls nicht mehr hören: etwa nach Terroranschlägen die stereotype Mahnung, man dürfe „keine voreiligen Schlüsse“ ziehen, mit dem Islam habe das doch nichts zu tun – und wer das Gegenteil behaupte, betreibe eine „schändliche Instrumentalisierung des Geschehenen im Dienste“, nun ja, „rassistischer Hetze“. Die meisten Muslime seien doch friedliebende Bürger. „Es war, als hätte man früher aktive Faschisten dadurch verharmlost, dass es doch auch gute Deutsche gab“, polemisiert Lohmer. Islamophobie- Angst wird zum Maulkorb der Aufklärung, die im Verlauf von Jahrhunderten unter vielen Opfern Freiräume gegen die Religion erkämpft hat, ohne dass dabei je von so etwas wie Christophobie die Rede gewesen wäre.

Pop goes Politik! Ausflüge in diese Sphäre hat Lottmann schon früher unternommen, etwa in Roman „Zombie Nation“, wo er als „Schröderist“ dem damals gerade abgewählten Bundeskanzler huldigte. In „Alles Lüge“ aber wird die Politik nun erstmals zum tragenden Element eines Lottmann-Romans. Schließlich sind die Deutschen durch die Flüchtlingskrise politisiert und polarisiert wie seit Langem nicht, mancher Riss geht mitten durch Freundes- und Bekanntenkreise, durch Familien und Beziehungen. Daraus bezieht der Roman seinen zeitgemäßen Grundkonflikt. Denn auch zwischen Lohmer und seiner Lebensgefährtin Harriet schwelt es. Sie ist eine linksorientierte Journalistin; Lohmers Gedanken aber driften in die Gegenrichtung. Lottmann inszeniert sein Alter Ego seit je als Querkopf und Widerspruchsgeist. „Ich sah die Dinge notorisch anders, als es gerade vorgeschrieben war“, bekennt er an einer Stelle. Und rupft die Blüten der politischen Korrektheit.

Geflüchtete als Jungbrunnen der Gesellschaft schätzen

In den Gesprächen mit Harriet allerdings hält er meist nur zaghaft dagegen, um den Konflikt nicht zu schüren. Und letztlich weiß er auch nicht so genau, was richtig ist, schwankt in seinen Sympathien. Wo man mit seiner Meinung nicht weiterkommt, ist Erfahrung hilfreich. Gemeinsam mit Harriet besucht Lohmer als Reporter einen AfD-Parteitag, den er als deprimierende Ansammlung von schlecht angezogenen alten Männern erlebt. Dann schleicht er sich ein in Berliner Flüchtlingsunterkünfte, mal gibt er sich als „Unterkunftsbeauftragter der Stadt Wien“ aus, mal als vermeintlicher Nachbar, der helfen will – und wird prompt zum Küchendienst eingeteilt. Dort erlebt er apathische Geflüchtete und Menschen mit fragwürdigem Helfersyndrom. Direkt von diesen Unterkünften begibt er sich dann wieder zu den Partys und Lesungen der Boheme von Berlin-Mitte – und macht die Erfahrung, dass in dieser Szene die Flüchtlingskrise ein komplettes Tabu ist. Ein vakuumartiges Schweigen umgibt das Thema.

Mit der Schließung der Balkanroute ändert sich Lohmers Sicht auf die Flüchtlingskrise wieder einmal. Wenn nicht noch weitere Millionen Migranten zu erwarten sind, kann er ja anfangen, die Million, die schon da ist, zu schätzen – als Jungbrunnen für die „deutsche Seniorengesellschaft“. Die Türken und Araber in ihren „warmen Verbänden“ erscheinen ihm beim Flanieren durch Neukölln plötzlich viel sympathischer als die „neuen deutschen Eltern in Prenzlauer Berg mit ihren rechthaberischen Gesichtern“. Auf diesen Seiten lässt er das neue muslimische Deutschland in der ironischen Manier von Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ hochleben.

Am Ende machen Lohmer und Harriet, erschöpft vom Jahr der Krise, Urlaub in Sanary-sur-Mer, jenem legendären südfranzösischen Treffpunkt der deutschen Emigranten in den dreißiger Jahren. Man reibt sich die Augen: Joachim Lottmann schreibt begeisterte Sätze über die Familie Mann und die politische Klugheit Thomas Manns. Tatsächlich war auch der Verfasser des „Zauberbergs“ ein politischer Balancierkünstler: „Ich bin ein Mensch des Gleichgewichts. Ich lehne mich instinktiv nach links, wenn der Kahn rechts zu kentern droht, – und umgekehrt“, schrieb er 1934 in einem Brief. Unter dieser Maxime lässt sich auch Lottmanns literarisches Politisieren verstehen.

Das ewige Szenegetue nervt inzwischen ein wenig

Seine Texte bieten ein schillerndes Gemisch aus Fiktion und Wirklichkeit, man liest sie mit permanentem Fake-Verdacht. „Alles umlügen, dass sich die Balkan biegen, aber so verblüffend intim, dass es jeder glaubt“ – so hat der Autor seine Arbeitsweise einmal charakterisiert. Zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens geistern durch seine Romane. Auch in „Alles Lüge“ ist die Dichte an Prominenz wieder hoch. Es nervt inzwischen allerdings ein wenig das ewige Szenegetue, diese Selbstinszenierung als gefragter Mann, dieses Dabeigewesenseinwollen überall dort, wo der Scheiß heiß ist und die angesagten Partys stattfinden. Lottmanns Romane berichten oft von Niederlagen und Demütigungen; gerade deshalb sind sie zugleich geprägt von einer aberwitzigen Sehnsucht nach Pop, Glamour und Celebrity.

So ist Lohmer auch in „Alles Lüge“ wieder auf der urbanen Pirsch, im Visier hat er frisch ausgewilderte Pop-Autorinnen wie Ronja von Rönne. Dieser Jugendwahn ist eine Krise des Alterns. Die Pop-Posen hatten bei Lottmann allerdings schon immer ein bizarres Moment. Mit ebenso viel Recht könnte man ihn als den Schriftsteller für ironische Herren jenseits der Lebensmitte bezeichnen. Seine Stärke ist kein knalliger, gebärdenreicher, sich authentisch gebender Stil (wie ihn Rainald Goetz zu schreiben versucht), sondern ein gemächlich-gemütliches Parlando, das seine doppelbödigen Reize durch schrägen Humor bekommt.

Der funktioniert in „Alles Lüge“ wieder bestens. Der Roman schließt nach einigen schwächeren Büchern wieder an die Stärke von „Endlich Kokain“ und „Der Geldkomplex“ an. Die Werke dieses Autors sind Bruchstücke einer eigenwilligen Konfession, die inzwischen auf mehrere tausend Seiten angewachsen ist. Whole lotta Lottmann! Seine Mischung aus Satire, Polemik, übler Nachrede, scharfer Beobachtung und klugen Gedanken bietet eine offensive Auseinandersetzung mit der Gegenwart, wie man sie in der deutschen Literatur sonst nur selten findet.

Joachim Lottmann: Alles Lüge. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 351 Seiten, 12 €.

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