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Die Legende. Ornette Coleman im Juli 2006 beim 40. Jazz Festival in Montreux

© dpa

Jazzmusiker Ornette Coleman: Er spürte den Schmerz der Freiheit

Das lange Leben dieses Jazzmusikers ist ein schmerzhafter Prozess gewesen: die Zerstörung des Alten, mit der Schaffung von etwas ebenso Starkem in Einklang zu bringen. Zum Tod des Saxophonisten Ornette Coleman ein Nachruf

Wo es um Freiheit geht, da hört der Spaß auf. Das hat als erster ein junger Schwarzer aus Texas begriffen, der wenig zu lachen hatte in Fort Worth, wo er aufwuchs in einer Siedlung ärmlicher Hütten nahe der Gleise, über die schwer beladene Güterzüge auf ihrem Weg von der Ost- zur Westküste donnerten, von den Häfen am Golf zu den Industrieregionen im Norden, an den Bahnübergängen ein scharfes, warnendes Signal ausstoßend, das der junge Ornette Coleman so oft hörte, dass er es später auf seinem Saxophon zu imitieren versuchte. Er sollte der Freiheit einen neuen Klang geben. Und wenn dieser Klang sich nicht wie eine Fanfare anhörte, dann hatte das seinen Grund.

Freiheit. Was für ein machtvolles Wort. Amerikanisch. Imperial. Es gibt eigentlich kein Gefühl für dieses Wort, es sei denn man vermisst sie. Oder jemand hat eine Jazzplatte aufgelegt und man hört diesen wabernden, sprudelnden Sound einer Improvisation, das Spiel der Patterns, das sich aus dem Körper europäischer Instrumente und Harmonien, aus afrikanischen Rhythmen erhebt. Als wäre es gar nichts, so zu spielen. Ein Leichtes.

Wie kompliziert Freiheit wirklich ist, wie aggressiv gegen die eigenen Empfindungen, dazu hat sich die Musik von Ornette Coleman immer bekannt. Mit dem Saxophonisten ist am Donnerstag der letzte große Freiheitskämpfer des Jazz gestorben. Sein Herz sei einfach stehen geblieben, verkündet seine Familie. Mit 85 Jahren brach der Lebensbeat dieses eigenwilligen, hochgebildeten Musikers ab. Zurück bleibt ein erratisches Werk, eine Pionierleistung der afroamerikanischen Kultur, eine Freiheitsmusik, die der Freiheit die Illusionen raubt, ohne sie zu verraten. Beim Hören von Colemans Musik, die sich erstmals 1959 ausformuliert der Öffentlichkeit zeigen sollte, begriff man, dass es eines feineren Sensoriums bedarf, um in Freiheit zu leben, eines noch auszubildenden Sinns für Leerstellen und Brüche und fehlende Antworten.

Dabei macht es natürlich einen großen Unterschied, ob man sich seine Freiheit erarbeiten muss oder sie auslebt, weil das gar keine Frage ist. Ornette Colemans Freiheit ging auf ein Missverständnis zurück. Seine Mutter hatte dem Jungen mit 14 ein Altsaxophon gegeben. Der Vater, ein Bauarbeiter und Koch, wie es heißt, war zu diesem Zeitpunkt schon lange tot. Ornette Coleman würde später behaupten, seine Familie sei "ärmere als arm" gewesen, was aber mit Blick auf ein so teures Instrument wie das Saxophon nicht stimmen konnte. Es zu spielen, brachte sich Ornette selbst bei. Was er nicht wusste: Um mit anderen Instrumenten zu harmonieren, hätte Coleman die Töne transponieren müssen. Als er es herausfand, war ein lebenslanges Misstrauen gegenüber den Gesetzen der Harmonielehre die Folge. Und viele seiner späteren Bands sollten Harmonieinstrumente wie Klavier oder Gitarre nicht mehr haben.

Sind Harmonien nicht der Boden, der einem Standfestigkeit verleiht? Die Mitte von allem? Coleman war der Auffassung, dass jeder sein eigenes harmonisches Zentrum besitzt. Seine Musik müsste es demnach nicht füllen. Die Fähigkeit zur „Unison“, wie er das Zusammenspiel mehrerer Musiker zu nennen pflegte, war nichts anderes als die Synchronisierung unterschiedlicher personaler Ton- und Akkordkerne. „Ich will nicht, dass sie mir folgen“, sagte Coleman 1995 über seine Mitmusiker, „ich möchte, dass sie sich selbst folgen, aber mit mir sind.“

Colemans „harmolodisches System“, das er mit den Jahren immer weiter ausbaute, gehört bis heute zu den Mysterien der Jazz-Geschichte. Nur absolute Experten überblicken seine Finessen, was Colemans Kompositionen das Schicksal der Unspielbarkeit beschert hat. Aber schon als Kind lernte er, sich über das Unverständnis seiner Umwelt hinwegzusetzen. In der Kirche musste er sich die Warnung an die anderen Kinder anhören, bloß niemals zu spielen wie er, niemals. Wenn er zu seinen Sololäufen ansetzte, die mehr einem ruckartigen Gehen glichen, erstarrte das Publikum. Doch von dem besten Saxophonisten jener Zeit in Fort Worth, einem weithin vergessenen Musiker namens Thomas „Red“ Connors, lernte er, dass Jazz weniger eine Tradition, als „eine Idee“ ist.

Klar, dass ihn der Bebop und die kreischenden Tiraden Charlie Parkers zunächst anspornten. Aber der Bebop war weit weg von Texas. Den Job in einer Minstrel-Band, mit der er durch den Süden tourte, verlor er bald. Er soll einem Mitmusiker Bebop-Phrasen beigebracht haben. Sein Biograf John Litweiler erzählt von mehreren Gelegenheiten, bei denen Coleman von erbosten lokalen Musikern blutig geschlagen wurde. Er kaufte sich daraufhin ein Plastiksaxophon, das zum Symbol seines rebellischen Wesens werden sollte.

In New York war Coleman in den Sechzigern mit den farbigen Samtanzügen, die er trug, ein Schlüsselfigur der Hipsterszene. Doch waren es wohl die sechs zuvor in Los Angeles verbrachten Jahre, die den Grundstein für seinen Durchbruch legten. Denn dort traf er auf wichtige Begleiter wie den Trompeter Don Cherry, den Bassisten Charlie Haden und Schlagzeuger Billy Higgins, die wie er an einer weniger formalen Sprache interessiert waren und mit denen er seine wegweisenden Platten „A Shape of Jazz to Come“ (1959) und „Free Jazz“ (1960) einspielen sollte. Er lief auch in den selbst geschneiderten Klamotten seiner Frau herum, der Dichterin Jayne Cortez, ein wilder, langhaariger Zeuge Jehovas, den Cherry als „eine Art schwarze Christus-Figur“ beschrieb.

Als Coleman mit 29 Jahren dann nach New York kam, in die Stadt des Bebop und Hardbop, hatte er seine musikalische Radikalität voll entwickelt. Er verzichtete auf Akkordwechsel und Harmonien, jeder in seinem Quartett schien einem eigenen Tempo zu folgen, über das wie in der traurigen Ballade „Lonely Woman“ nur in den Melodiepassagen ein gewisses Einvernehmen erzielt wurde. Er schien den Beat mit seinem Saxophon "aufzufressen", wie Litweiler schreibt ("A Harmolodic Life"). Die Machtverhältnisse wurden umgekehrt, Bass und Schlagzeug spielten zuweilen melodischer als Trompete und Saxophon. Die bliesen Kürzel, Chiffren, kleinste Melodiesplitter in die Luft, die keinerlei Zusammenhang mehr entsprungen waren. Doch was sich an Tradition in diesen Linien erhalten hatte, war nur einfach nicht mehr erkennbar. Der Blues vor allem.

Die Wucht, mit der Coleman das Regelwerk des Jazz entkräftete, war enorm. In den drei Jahren bis 1962, in denen er seine wichtigsten Platten aufnahm und im Five Spot Café in Manhattan gastierte, beeinflusste er eine Generation von Musikern. John Coltrane, der für zwölf Minuten im Five Spot mit Coleman auf der Bühne gestanden hatte, meinte in Erinnerung daran, es sei „der intensivste Moment“ seines Lebens gewesen. Aber Miles Davis hatte Schwierigkeiten mit dem dem neuen Star, den er innerlich für total zerrüttet hielt. Coleman schlug bald den Weg in die Kollektivimprovisation des Free Jazz ein, dem er mit seinem "Free Jazz"-Album zwar den Namen, aber noch nicht die endgültige Form gegeben hatte. Es ging eben noch freier als frei.

Coleman selbst interessierte die totale Entfesselung als Methode nicht, die seine Nachfolger in den späten Sechzigern suchten. Er hatte mit seinen Grenzen sprengenden Alben bloß Platz für eine neue Struktur schaffen wollen. Zwei Jahre, in denen er sich nach dem Zerfall seines grandiosen Quartetts von allem zurückzog, separierten ihn zusätzlich von der aufblühenden Jazzszene. Noch einmal kehrte er mit einer harmonisch weiter abgespeckten Trioformation zu einer Aufsehen erregenden Konzertserie zurück ("Live at the Golden Circle"). Danach jedoch wandte er sich stärker dem Komponieren zu, verließ selten den Schreibtisch, an dem er sein System vorantrieb. Mitte der Siebziger formierte Coleman dann seine elektrische Band Prime Time, die sehr laut vor allem polyphonen Mustern nachging. Statt die Welt mit Leere zu schockieren, verdichtete er Klangräume nun zu machtvollen, tyrannischen Krachklumpen. Freiheit war nur noch im Übermaß zu haben.

So ist das lange Leben dieses Jazzmusikers ein schmerzhafter Prozess gewesen, die Zerstörung des Alten und Bewährten, mit der Schaffung von etwas ebenso Starkem in Einklang zu bringen. Wer wahre Freiheit will, muss in der Musik von Ornette Coleman leben können.

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