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Ganz weit weg vom Schwiegermutterjazz. Die 26-jährige Sängerin Cécile McLorin Salvant.

© Camille Blake/Jazzfest

Jazzfest Berlin: Frei bleibend

Zwischen Konvention und Bruch: Eindrücke vom Jazzfest Berlin.

Von Gregor Dotzauer

Wer seine grundlegende Freiheit aufgäbe, um vorübergehend Sicherheit zu gewinnen, verdient weder das eine noch das andere, erklärte Benjamin Franklin einmal unter heiklen politischen Umständen. Das lässt sich auch auf die Kunst anwenden – und besonders auf den Jazz, der sich seit Anfang der sechziger Jahre immer wieder mit der Umkehrung dieser Einsicht konfrontiert sah: Wer jede Sicherheit aufgibt, hat noch lange keine Freiheit gewonnen. Doch obwohl die dogmatischen Kämpfe um Bindung und Bindungslosigkeit längst ausgefochten sind, liegt im Spannungsfeld von Konvention und Regellosigkeit noch immer das Geheimnis dieser Musik.

Zum Beispiel bei Cécile McLorin Salvant, die zur Eröffnung des 52. Jazzfest Berlin im Haus der Berliner Festspiele ein traumhaftes Konzert sang. Es war in allem das Gegenteil des Berliner Splitter Orchesters, das sich zuvor durch ein dreiviertelstündiges Gelände frei improvisierter Klangaktionen begeben hatte – jenseits des Aufeinanderhörens nur gesteuert durch die willkürlich hochgehaltenen schriftlichen Anweisungen von George E. Lewis’ „Creative Construction Set™“.

Was die 26-jährige Tochter einer Französin und eines Haitianers, die in Florida aufwuchs, hier mit ihrem Trio veranstaltet, könnte man erst einmal glatt für Schwiegermutterjazz halten. Erlesen swingend, intelligent arrangiert, delikat im Klangbild, auch in den Eigenkompositionen eng an die Klassiker des Great American Songbook angelehnt, doch ohne einen Funken zeitgenössischer Unruhe wie auf die Erfüllung eines Plansolls aus. Auch ihre Musiker begleiten brav in der Hierarchie von Klavier (Fred Nardin als Anführer, der an diesem Abend Stammpianist Aaron Diehl ersetzt), Bass (Paul Sikivie) und Schlagzeug (Lawrence Leathers).

Sie aber gibt dem Ganzen mit einer abenteuerlichen Phrasierungsfreiheit einen Überschuss, der alles Formatradiohafte sprengt. Sie läuft vor den anderen her und biegt rechtzeitig hinter ihnen wieder ein. Von einer Sekunde auf die andere färbt sie die kieksende Kindlichkeit um ins kehlig Gospelhafte, verlängert glasklar stehende Töne mit einem zauberhaften Vibrato. Mit entspanntem Selbstbewusstsein umarmt sie einmal die Möglichkeiten des Jazzgesangs zwischen Billie Holiday und Sarah Vaughan – und tritt zuletzt ohne Mikrofon vors Publikum, mit einem markerschütternden Bluesgesang von den Baumwollfeldern.

Das vom „Guardian“-Kritiker Richard Williams zusammengestellte Programm ist auf solche erhellenden Kontraste aus und fügt ihm mit Living Being, der aktuellen Band des französischen Akkordeonvirtuosen Vincent Peirani, noch eine mit verzwickt ungeraden Fusiongrooves (Drummer Yoann Serra) druckvoll elektrifizierte Variante hinzu – bis zur rasenden Balkanpolka am Ende. Und das alles ist Jazz? Genau das wollte Williams zeigen, und er beweist dabei nicht zuletzt ein Händchen für Künstler, die man hierzulande sonst wenig zu hören bekommt.

Dazu gehört das Quartett des südafrikanischen Schlagzeugers Louis Moholo: Mitte der sechziger Jahre war er vor dem Apartheidsregime nach London geflohen, wo er sich in der Free-Jazz-Szene austobte und Chris McGregors legendäre Brotherhood of Breath durch die kollektiven Eruptionen trommelte. An diese ekstatische Form von Jazz, aus dessen aktionistischen Interaktionen sich regelmäßig folkloristische Themen von hymnischer Kraft schälen, schließt er, zurückgekehrt nach Kapstadt, noch mit 77 Jahren an.

Fröhlicher Angriff von allen auf alle

Ein Stück verschmilzt mit dem nächsten. Jason Yarde bläst sich mit schrillem Ungestüm durch eine Batterie von Bariton-, Alt- und Sopransaxofonen. John Edwards rupft wild an seinem Kontrabass herum, und Alexander Hawkins hämmert Struktur und Spiritual-Innigkeit in die Tasten seines Flügels. Es ist ein fröhlicher Angriff von allen auf alles, und Moholo stellt die Rolle seines Instruments auf den Kopf, indem er es den Melodieinstrumenten überlässt, rhythmische Zuverlässigkeit herzustellen, während er abwechselnd mit Rods und Sticks ein pausenloses Feuer entfacht, mit dem er, meistens ahead of the beat, derwischhaft vor den anderen hertanzt.

Mit dem Diwan der Kontinente hatte Williams noch ein zweites Berliner Ensemble eingeladen – eine Erweiterung von Cymin Samawaties Band Cyminology ins Orchestrale. Exotischer als bei diesem mit Oud, Ney und der Kastenzither Kanun durch orientalisch geprägte Ostinati schwebende und mit der japanischen Koto und der chinesischen Guzheng instrumentierten Auftragswerk gerät es nicht – wobei Wu Wei an der Sheng, einer chinesischen Mundorgel, den größten Szenenapplaus erhält.

Mit Charles Lloyds „Wild Man Dance“ wird es allerdings noch viel irisierender. Die über weite Strecken modal geprägte Suite des 77-jährigen Tenorsaxofonisten, ursprünglich für das Jazzfestival in Breslau entstanden, fügt einem klassischen Jazzquartett mit Gerald Clayton am Piano eine von Sokratis Sinopoulos mit herzzerreißender Melancholie gespielte kretische Lyra hinzu, eine auf dem Knie gestrichene Kurzhalslaute. Dazu gesellt sich ein Cimbalom, ein von dem Ungarn Miklós Lukács mit unvermeidlicher Honky-Tonk-Anmutung geklöppeltes Hackbrett, das sich wiederum mit Eric Harlands Schlagzeug verzahnt. Lloyds Suite lebt von einem ständigen Fließen, von Anfängen und Übergängen – und von prägnanten Themen bis zum handfesten Blues, die er mit post-coltrane’scher Strahlkraft intoniert. Und wenn Kontrabassist Joe Sanders mit Sinolopoulos einen Pat-und-Patachon-Dialog ohne alle anderen führt, ist das so skurril wie liebenswert. Ein erhebender Abend.

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