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Künstler des Jahres. Der amerikanische „Downbeat“ hat den 75-jährigen Wadada Leo Smith gerade in drei Kategorien zum Sieger gekürt.

© Cuneiform Records

Jazz-Improvisation im Exploratorium: Wir sind unser eigener Anker

Ordnung ohne Herrschaft: Die Jazz-Legenden Wadada Leo Smith, Barre Phillips und Günter „Baby“ Sommer improvisieren im Berliner Exploratorium.

Von Gregor Dotzauer

Am Rand des alten Kreuzberg 61, zwischen Mehringdamm und Bergmannstraße, im dritten Stock von Aufgang der C der Sarottihöfe, befindet sich eine Oase des friedlichen Anarchismus. Vor 13 Jahren hat sich hier Matthias Schwabes Exploratorium eingenistet, ein Loft für improvisierte Musik und kreative Musikpädagogik. Getragen von einer Stiftung, die den Namen von Lilli Friedemann trägt, geht es hier in Workshops, Kursen, Vorträgen und Konzerten um die hohe Kunst der Gruppenimprovisation.

Friedemann (1906–1991) hatte in den 20er Jahren bei Carl Flesch an der Berliner Musikhochschule Geige studiert, bei Paul Hindemith Tonsatz gehört und in dessen „Räuberorchester“ Gefallen an offenen Strukturen gefunden, bevor sie sich diesen von ihrem 50. Lebensjahr an für immer verschrieb. „Ordnung ohne Herrschaft“ sollte die Schrift heißen, in der Friedemann für die Nachwelt ihr gesammeltes Wissen über eine auch therapeutisch hilfreiche Spontaneität festhalten wollte, die sich gemeinschaftlich die Regeln gibt. Wäre es angesichts des Themas nicht ein Witz gewesen, wenn sie damit jemals fertig geworden wäre?

Drei in zahlreichen Stilen versierte Legenden

Die Herrschaften, die sich am Sonntagabend im Exploratorium die Ehre gaben, dürften von Lilli Friedemann noch nie gehört und dennoch alles beherzigt haben, was ihr an Geistesgegenwart, Konzentration und Aufeinanderhören vorschwebte. Dabei brachte diese Versammlung alter Männer ihr ganz eigenes Improvisationsvokabular mit. Der jüngste, der Dresdner Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer, feiert im August seinen 74. Geburtstag, Trompeter Wadada Leo Smith blickt im Dezember seinem 76. Geburtstag entgegen, und Kontrabassist Barre Phillips wird im Oktober 83 Jahre alt. Drei in zahlreichen Stilen versierte Legenden, die aus den Tiefen der Free-Jazz-Ära kommen und doch noch immer zu den beweglichsten und markantesten Stimmen eines Spiels gehören, dessen alterslose Freiheiten alle Etiketten von Neuer Musik und Echtzeitmusik hinter sich lassen.

Und Kopfsprung in eine aktionsreiche Stunde ohne jede Verabredung. Hinein in drei ausgedehnte Tonfelder voller atomisierter Klangereignisse und innig verzahnter Linien. Verdichtung und Auseinanderstreben zur gleichen Zeit, Melodie und Geräusch im munteren Miteinander. Bei den kleinen wie den großen Allianzen heißt die Methode mal Stop-and-go, mal Fließenlassen, und am Ende steht ein kurzes Encore, das Sommer unter dem Gelächter von Phillips und Smith als „Anchor“ aussspricht. Denn von Anfang an reißt es sie alle fort in einem Prozess, in dem nur sie selbst sich der Anker sind. Abwechselnd ist jeder von ihnen einmal primus inter pares, wobei Günter „Baby“ Sommer nicht nur durch sein Schlagzeugarsenal mit dem Riesengong, sondern auch durch seine Gestik die raumgreifendste der drei Gestalten ist. Mit erregtem Oh! und Hi! und Rrr! hilft er seinen Kollegen auf die Sprünge. Auch sonst strukturiert er durch die Wiederholung von Rhythmuszellen das Geschehen immer wieder. Und so münden sie gemeinsam in einen leisen Shuffle mit synkopierten Tönen, in ein Paukengrummeln, über dem Phillips einen gestrichenen Flageolettdiskant flackern lässt, oder navigieren durch Tempelglockengebiete.

Die Musik hinterlässt eine Energie in der Luft

Die größte Autorität hat zweifellos Wadada Leo Smiths Trompete, im tonlosen Beatmen, im gestopften Kieksen, in den mit Gesang versetzten Multiphonics und dem forcierten, ins Unreine gepressten Strahl, unter dem der ganze Saal erzittert. Die Kritikerumfrage im August-Heft des „Downbeat“, so etwas wie der Dow-Jones-Index des Jazz, hat Smith gleich in drei Kategorien zum Sieger gewählt: Künstler des Jahres, Trompeter des Jahres und Verantwortlichen für das Album des Jahres, die für sein Golden Quintet komponierte Suite „America’s National Parks“ (Cuneiform Records).

Die Musik dieses Berliner Abends ist per definitionem flüchtiger, aber in ihrem nicht auf Reproduktion angelegten Zustand nur auf andere Weise haltbar: Man muss an die Energie, die sie in der Luft hinterlässt, nur ein tönendes Streichholz halten, und sie entzündet sich von Neuem.

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