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Ins Weite blicken. Richard Pietraß.

©  Patrick Pleul/picture alliance/ZB

Jan Wagner gratuliert Richard Pietraß: Lob des Spreewals

Der Himmelsbestauner: Der Lyriker Jan Wagner gratuliert dem Dichter Richard Pietraß zum 70. Geburtstag.

Es gibt Dichter, deren Werk man schätzt, deren Persönlichkeit es aber geraten sein lässt, sich möglichst von ihnen fernzuhalten, und andererseits gibt es Dichter, die rundum liebenswert sind, über deren Zeilen man aber diskret den großen Mantel des Schweigens breiten möchte. Viele Abstufungen sind denkbar zwischen diesen beiden äußersten Polen.

Doch wenn wirklich einmal Wesens- und Werkesgüte zusammenkommen in einer Person, wenn man sich zu dieser Idealgestalt dann einen barocken Vollbart hinzudenkt, ein freundlich glucksendes Lachen, das immer dann zu hören ist, wenn die Begeisterung beim Entwerfen sprachlicher Arabesken und geistreicher Wendungen zu immer schnellerer Rede führt – dann wird man zwangsläufig die prachtvolle Gestalt von Richard Pietraß vor Augen haben. Er wird heute angeblich siebzig Jahre alt – auch wenn man das angesichts der jungenhaften Energie, die dieser kurz nach Kriegsende in Lichtenstein unweit von Zwickau geborene Wahlberliner in Gesprächen über Apollinaire, Flora, Fauna und Königsberger Klopse an den Tag legt, bei langen Telefonaten oder bei einem Getränk im Café, kaum glauben mag.

Seine Herkunft hat Richard Pietraß, dieses Kind ostpreußischer Flüchtlinge, in einer Reihe von Gedichten zum Thema gemacht. Es gibt anrührende Stücke über den Vater, der nach der Kriegsgefangenschaft als Müller in der neuen Heimat Fuß zu fassen suchte, wie über die Mutter, die den Sohn zum Besuch der Oberschule ermutigte – ein Weg, der nach einer Ausbildung zum Metallhüttenarbeiter zum Studium der Klinischen Psychologie an der Berliner Humboldt-Universität und weiter führte. Auch den Geschwistern hat Pietraß Gedichte gewidmet, eines seiner anrührendsten, den „Suppenruf“, gar allen, den Eltern, den Brüdern, der Schwester, und sowieso ist es oft das persönlich Erlebte, das unmittelbar Erfahrene und Erlittene, das zum Gedicht führt.

Seine Gedichte duften und klingen

Bei aller Sinnlichkeit, die Pietraß’ Gedichte zu geradezu greifbaren Erscheinungen macht, sie duften und klingen läßt, bei aller Lebenslust, die sich sogleich auf den Leser überträgt, läßt sich der Basso continuo der Melancholie und eines großen Ernstes kaum überhören, auch nicht in einem Gedicht wie „Die Gewichte“, das einem der in wechselnden Verlagen publizierten Auswahlbände des Pietraßschen Werkes den Titel gab: „Die Muttermilch und das Vatererbe. / Mein Hunger nach Leben und das Wissen zu sterben. / Der Gang zum Weib, der Hang zum Wort. / Der Keim der Reinheit und wie er langsam verdorrt. / Das Strohfeuer und der glimmende Docht. / Aufruhr, der auf Gesetze pocht. / Die heillose Fahne im bleiernen Rauch. / Galle, verschluckt im Schlemmerbauch. / Die Statuten des exemplarischen Falls. / Mein niemals vollgekriegter Hals. / Der säuernde Rahm, der flüchtige Ruhm. / Die Grube und die Gnade postum.“

Ein Himmelsbestauner und Höllenfahrer also ist dieser Lyriker, den bamselnde Amseln ebenso befeuern wie die Kuriositätenkabinette der Liebe, vor denen er das Sängerknie beugt. Ein Holunderbeschwörer („Hol über, Holunder“, so lautet ein unvergeßlicher Kehrreim), ein Verehrer von Zehenküssen und Murmelkraut, Schattenalge und Auwald, Blauwal und Wind, Lobredner auch der Ampfersuppe, mal zärtlich und mal deftig, dem man beschwingt vom Glück zum Glucksen und von dort zur Glucke der letzten Dinge folgt.

Sein Humor macht nie vor der eigenen Person Halt

In einem Gespräch hat sich Richard Pietraß zum Gelegenheitsgedicht im Goetheschen Sinne bekannt, und oftmals sind es, wie bei Goethe, die Herzensdinge, die zu einer solchen Gelegenheit führen: Eine Vielzahl von Versen, die Liebe und Erotik mit Hingabe und Sprachlust feiern, ziehen sich durch dieses Werk, immer aber („Ketten uns, wie wir schlafen, des andern steiniges Brett / hungern, lungern, lügen uns schön. Sie ist nicht dünn, ich bin nicht fett.“) veredelt durch den Richard Pietraß eigenen Humor, der vor der eigenen Person nie Halt macht.

Thomas Rosenlöcher, der Dichterfreund, hatte ein Grußpoem zum letzten runden Geburtstag, der wirklich und wahrhaftig zehn Jahre her sein muss, so begonnen: „Richard, der alles gern gründlich bespricht, / Nie einen Eintopf verschmähte und sich / Selbst mit Humor als Harmonium bezeichnet, / Aber vor allem für die Poesie lebt.“ So ist es, und man muss hinzufügen: Nicht nur die eigene Poesie ist es, für die er lebt. Denn Richard Pietraß war neben seiner Existenz als Dichter immer auch ein Mittler von Graden, nahm sich als Herausgeber des legendären „Poesiealbums“ (einmal von 1977 bis 1979, dann erneut von 2009 bis 2012) wie als Lektor im Verlag Neues Leben der Werke anderer Dichter leidenschaftlich an und suchte ihnen ihr Publikum, beugte sich auch als kundiger Nachdichter liebevoll über fremde Zeilen. So stammen etwa die vielleicht schönsten Übertragungen der Gedichte des Iren Seamus Heaney ebenfalls von ihm.

Möge er noch oft aus den tiefen Gewässern Berlins aufsteigen

„Atembehauchte Rekonstruktion“, so bezeichnet Richard Pietraß die Übersetzung eines Gedichts – eine schöne Definition. Hoffen wir, dass sein Gespräch mit den Dingen und den Dichtern dieser Welt noch lange nicht abreißt, dass sein Rahm nicht sauer wird und der Ruhm kein flüchtiger ist, wie es in dem Autorenbildnis „Die Gewichte“ befürchtet wurde. Ein weiteres Selbstporträt, nun aber auf lediglich vier Zeilen, finden wir in dem Gedicht „Fontäne“: „Ich nehme den Dialog wieder auf, wie der Blauwal / Auftauchend aus Atemnot. Rasselnd / Pumpe ich mich frei, tauche ab. Einmal Luft holen / In zehn Jahren, das ist genug.“

Nun denn: Möge er noch oft – sagen wir: mindestens viermal, das ergäbe, legt man seine eigene Versformel zugrunde, schöne vierzig Jahre –, möge er noch oft aus den tiefen Gewässern Berlins emporsteigen, ein Binnen-, ein Spreewal, damit wir anderen freudig-erregt „There he blows!“ ausrufen können wie Melvilles Waljäger von Nantucket. Wer Richard Pietraß auch nur aus der Ferne sichtet, darf dies als gutes Omen werten. Wer ihn näher kennenlernt, schätzt sich glücklich.

Im Verlag Ulrich Keicher ist soeben das bibliophile Bändchen „Dichterleben – Steckbriefe und Kusshände“ (40 Seiten, 12 €) erschienen, mit 125 sprachspielerischen Hommagen an die Dichter, die Pietraß seit 1998 im Literaturforum im Brecht-Haus vorgestellt hat. Die Reihe endet am 21. Juni nach nunmehr fast zwanzig Jahren mit einer Veranstaltung, in der Jan Wagner Richard Pietraß befragt (20 Uhr).

Jan Wagner

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