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Jacob Collier ist auf der Bühne umringt von Keyboards, Schlagzeug und Bässen.

© imago/Agencia EFE

Jacob Collier in Potsdam: Jazzsinfonie der Tausend

Beatmonster und Balladen: Der Jazz-Virtuose Jacob Collier begann seine Karriere auf YouTube. Jetzt spielt er im Nikolaisaal eine berauschende One-Man-Show.

Von Gregor Dotzauer

Wo wir sind? Offenbar im Zirkus. Oder was bedeutet es, wenn ein 23-jähriger Springinsfeld in Harlekinshosen auf die Bühne des Potsdamer Nikolaisaals flitzt und mehr als anderthalb Stunden lang übermütig durch seinen Instrumentenpark turnt? Jacob Collier, das ist die Jazzsinfonie der Tausend als One-Man-Show. Ein zwischen Kopf- und Bruststimme Flickflacks schlagender Akrobat, dem auch Tasten, Saiten und Trommelfelle gehorchen. Was willst du als nächstes sein, scheint er sich zu fragen. Ein Chor, ein Orchester, eine Bigband? Sei es einfach! Und wenn dir die Klangmassen deiner Loops über den Kopf wachsen, tauche unter ihnen hinweg. Jedes Beatmonster braucht zur Besänftigung eine Ballade: Der Steinway allein tut es auch.

Es ist schwer zu sagen, was bei alledem das Verblüffendere ist: Dass aus Colliers zur Schau getragenem Virtuosentum eine Musik entsteht, die in die Ohren und die Beine geht, aber auch die Seele berührt. Oder dass aus dem, was in der digitalen Retorte und der Einsamkeit seines Londoner Kinderzimmers begann, ein berauschendes Liveereignis geworden ist. Denn noch vor wenigen Jahren war Jacob Collier ein reines YouTube-Phänomen. Mit 17 hatte er Stevie Wonders „Don’t You Worry ’Bout“ von Grund auf neu arrangiert. Im Multitrack-Verfahren spielte er die Einzelstimmen ein, fügte sie mit Logic-Pro-Software zusammen und machte aus dem Ganzen ein Splitscreen-Video, das inzwischen fast drei Millionen Mal geklickt wurde.

Schwindelerregende Arrangements

Weil ein Teil des Collier-Vergnügens darin besteht, ihm in dieser Vervielfachung zuzusehen, nimmt er sich jetzt auch vor Publikum mit zwei Kameras auf. Das Material blendet Will Young, sein Mann fürs Visuelle, auf einer Leinwand übereinander: So sieht man im Vordergrund den hyperaktiven Einzelkämpfer an Keyboards, Schlagzeug, Percussion, Gitarre und Bässen – und im Hintergrund die Band. Und wie gut steht sie im Saft von Funk und Soul. Ungerade Rhythmen gehen ihr so physisch eingängig von der Hand wie die Modulationstaumel, durch die Collier Coverversionen wie Eigenkompositionen schickt.

Im Nikolaisaal spielt er eine Mischung aus seinem YouTube-Repertoire und den Stücken seines bisher einzigen Albums „In My Room“, dessen Titel sich sowohl auf die heimische Experimentierstube bezieht, wo er es aufgenommen hat, wie auf die gleichnamige Komposition von Beach Boy Brian Wilson. Ein gewiss bis ins Letzte durchgetaktetes Konzert, das sich kaum von anderen Tourneestationen unterscheiden dürfte und dennoch aus der Energie des Augenblicks lebt.

Die Arrangements sind vor allem in den Gesangspartien angenehm schwindelerregend: irgendwo zwischen den abenteuerlichen Reharmonisationen, die Gene Puerling einst für die Hi-Lo’s oder die Singers Unlimited ersann und den zeitgenössischer groovenden Vokalsätzen von Take 6. June Lee hat auf YouTube eine Reihe von Colliers raffinierten Versionen transkribiert.

Dompteur des Publikums

Wer beweisen wollte, dass deren Komplexität erfahrenen Hörern etwas gibt und weniger erfahrene nicht überfordert, hätte dazu in Potsdam Gelegenheit gehabt. Sowohl bei Colliers „Saviour“ als auch bei der Zugabe, Paul McCartneys „Blackbird“, spielt der Akrobat zugleich den Dompteur des Publikums und verleitet es zum anspruchsvollen zweistimmigen Mitsingen. Das Bemerkenswerteste aber ist, dass die Schlichtheit eines solchen Beatles-Klassikers ihren Charme unter Colliers vertrackten Voicings und hektischen Texturen so wenig verliert wie George Gershwins „Fascinating Rhythm“ seinen entspannten Swing.

Wo das für den Sohn einer Geigerin, der lediglich bei Gwilym Simcock an der Royal Academy of Music eine Weile in die pianistische Schule ging, noch hinführen soll? Quincy Jones, der seit einer Weile seine schützende Hand über den hochbegabten Autodidakten hält und ihn als erster zu einer Soloshow nach Montreux einlud, weiß es vielleicht. Kollegen wie Herbie Hancock und Chick Corea ahnen es. In Deutschland muss sich sein Genie erst noch allgemein herumsprechen. Das ist auch eine Chance: Staunt über ihn aus nächster Nähe, solange er noch in kleinere Städte wie Potsdam, Ebersberg (am Donnerstag) oder Backnang (am Freitag) kommt.

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