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Die Berliner Schriftstellerin Irmgard Keun im Alter von 76 Jahren. Auch sie musste im Zweiten Weltkrieg flüchten.

© dpa

Irmgard Keuns Klassiker „Kind aller Länder“: Ein Roman zum Tränenlachen

Die Berliner Schriftstellerin Irmgard Keun musste 1936 vor den Nazis fliehen und schrieb mit „Kind aller Länder“ einen einfühlsamen Exil-Roman aus Kinderperspektive, der seit Kurzem auch als Hörbuch erhältlich ist. Ein Tipp für die Urlaubslektüre.

Urlaubszeit ist nicht einfach Lesezeit, neben allem anderen Zeitvertreib. Wobei es ja besser heißen sollte: Zeitgewinn. Vertreibung ist anders. Womit wir beim Thema der Stunde sind. Vertreibung. Flucht. Manchmal denkt man, es dürfte auch mal die Flucht aus dieser Zeitthemazeit geben, die ja ihrerseits ein Indiz für unsere Zeitgenossenschaft wäre und zumal in den Ferien ganz legitim erscheint. Trotzdem möchte ich als wunderbare Urlaubslektüre ein Buch empfehlen, das von Flucht und Vertreibung handelt. Aber ganz anders als andere. Graziös und charmant erzählt Irmgard Keuns „Kind aller Länder“ vom Erlebnis der Emigration. Es redet dabei durch den Kindermund eines Mädchens, und der tut, wenn es große Literatur ist wie diese, nicht nur im Sprichwort viel Wahrheit kund.

Keun, die 1931/32 durch ihre Romane „Gilgi, eine von uns“ sowie „Das kunstseidene Mädchen“ für kurze Zeit sehr berühmt, dann von den Nazis verboten und erst Ende der 1970er Jahre wiederentdeckt wurde, hat das „Kind aller Länder“ 1938 im Amsterdamer Exilverlag Querido veröffentlicht. Damals lebte sie selber im holländischen Exil. Die 1905 in Charlottenburg geborene Autorin hatte 1935 die Tollkühnheit, beim Berliner Landgericht gegen die Verbrennung ihrer Bücher durch die Nazihorden zu klagen. Das hatte sonst niemand gewagt.

Prompt wurde sie von der Gestapo verhört, floh 1936 zuerst nach Belgien, war mit dem grandios zerrütteten Exil-Schriftstellerkollegen Joseph Roth liiert, zog mit ihm von Paris bis Lemberg und Amsterdam, ging wegen einer anderen Liebe nach Amerika – und kehrte 1940 unter falschem Namen zu ihrer Familie nach Deutschland zurück. Erst kurz vor ihrem Tod, 1982 in Köln, wurden ihre verstreuten Werke neu aufgelegt.

Ein Roman zum Tränenlachen

Zwar hatte Julien Duvivier 1959 „Das kunstseidene Mädchen“ – die an Ödön von Horváths Tragikomödien gemahnende Saga einer mittellosen Sekretärin im Dickicht der Großstadt – mit Giulietta Masina, Gert Fröbe und anderen deutschen Nachkriegsstars verfilmt, doch die Schriftstellerin Irmgard Keun war damals aus dem Gedächtnis der literarischen Öffentlichkeit verschwunden.

„Kind aller Länder“ handelt von den Emigrationserfahrungen der zehnjährigen Ich-Erzählerin Kully, deren Vater, einen eben noch wohlhabenden Schriftsteller, die (nie genannten) Nazis mit Frau und Tochter aus Deutschland vertrieben haben. Schon mit dem ersten Satz packt uns Keuns Kully dabei voller Witz: „In den Hotels bin ich auch nicht gern gesehen, aber das ist nicht die Schuld von meiner Ungezogenheit, sondern die Schuld von meinem Vater, von dem jeder sagt: Dieser Mann hätte nie heiraten dürfen.“ Kully und ihre Eltern sind meist nur noch Menschen in Hotels, in denen der ständig in kuriose Pump- und Vorschussgeschäfte (für nicht existente Schreibprojekte) verstrickte Vater auf viel zu großem Leichtfuß lebt.

Kaum winkt irgendwo ein bisschen Geld, ordert der Papa Kaviar und Champagner – gegen alle drückenden Sorgen. Sein Motto lautet: „Ein Mann der fremden Frauen nicht die Hand küsst, küsst seiner eigenen Frau auch nicht die Füße.“ Mitunter lässt der Schwerenöter (hier passt dieses urdeutsche Wort) auch Gattin und Tochter im Hotel oder Restaurant einfach als lebendes Pfand zurück, weil er die Rechnung gerade nicht bezahlen kann. So geht es abenteuerlich von Brüssel bis Prag und kurz auch nach New York, zum Tränenlachen.

Das Hörbuch ist Kino für die Ohren

Kully erzählt das nicht einfach als altklug kesser Naseweis, sondern mit einem Kinderstaunen gegenüber allem Fremden, das ohne kitschelndes Sentiment oder nachgemachte Naivität dem Überlebensmut der damals gleichfalls noch jungen Emigrantin Irmgard Keun entspringt. „Kind aller Länder“ ist dieses Jahr neu aufgelegt worden und auch als Hörbuch erschienen: Wobei die 35-jährige Hamburger Schauspielerin Jodie Ahlborn dem Mädchen Kully ihre frische, gefühlskluge Stimme verleiht. Schönes Kino für die Ohren.

Irmgard Keun: Kind aller Länder. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 224 Seiten. 17,99 €; Hörbuch. Audioverlag, 4 CDs, gesprochen von Jodie Ahlborn, 19,99 €.

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