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© Marco Borggreve

Interview: „Wir spielen keine Noten“

Geiger sind oft seltsam, aber Patricia Kopatchinskaja ist ein Klasse für sich. Ein Gespräch über Schrotkugeln und Emotionen.

Frau Kopatchinskaja, was ist Ihre Geige für Sie? Eine Gefährtin, ein Werkzeug?

Es ist eine Pressenda von 1834, sie ist meine Seele. Ich bin sehr davon abhängig, wie sie klingt. Plötzlich macht sie Geräusche, es fehlt etwas im Klang, dann tut mir selbst sofort alles weh.

Sie sind aber nicht immer nett zu ihr, Ihr energischer Strich ist berühmt.

Sie ist auch nicht immer nett zu mir! Am Anfang wollte ich übrigens lieber komponieren, seit ich 13 war, in der Emigration in Wien. Es war keine gute Zeit, wir wohnten im Keller, hatten Angst vor dem nächsten Tag, und das Komponieren war mein Ausweg. Aber ich wusste, dass ich nicht davon leben kann. Mit 19 merkte ich, dass ich eher als Geigerin eine Mission habe. Es war wie eine Amputation.

Sie mussten sehr viel üben?

Wie der Teufel. Während sich meine Kollegen in der Wiener Musikhochschule mit Wieniawski und Paganini herumschlugen, habe ich immer moderne Musik gespielt. Mir fehlte das Repertoire. Ich ging nach Bern, dort hängt die Ruhe in der Luft. Ich habe mich vergraben und alles geübt, was ein Geiger braucht.

Was brauchten Sie denn?

Selbstbeherrschung. Der Mäzen, dem ich meine Geige verdanke, sagte zu mir: Du schießt mit Schrot, du verpulverst alles und triffst keinen. Du musst deine Munition in eine Patrone tun und zielen. Musikalisch ist mir ein Stück schnell klar, aber wie ich es auf der Bühne schaffe, mein Bestes zu geben, das ist harte Arbeit.

Wollten Sie je etwas anderes spielen?

Als Kind habe ich gern Klavier gespielt, weil man dann alles sein kann, das ganze Orchester. Die Geige ist immer nur oben. Vielleicht sind Geiger deshalb seltsam. Immer dieses hohe „Iiiiieeeh“: Wir schweben über einem Abgrund in der Luft.

Spielen Sie deshalb barfuß, wegen der Bodenhaftung?

Ja, vielleicht. Es hilft mir jedenfalls gegen das Lampenfieber.

Haben Sie andere Finger als ich?

Mein Mann ist Neurologe. Es gibt neurologische Untersuchungen darüber, dass Geiger mehr Nerven in den Fingerspitzen haben. Wir sind dort hypersensibel. Meine Gehirnhälfte, in der das Gefühl sitzt, muss ziemlich groß sein und die andere ganz klein (lacht). Nach einem Konzert kann ich manchmal gar nicht reden. Mir fallen die Wörter nicht mehr ein. Wir spielen ja keine Noten, sondern Emotionen. Manchmal bleiben es allerdings Noten, das ist dann sehr traurig.

Haben Sie deshalb immer Lampenfieber?

Ja, weil es jedes Mal ein Wunder ist und man nie weiß, ob es geschieht. Deshalb habe ich auch die Noten vor mir. Sie befreien mich. Ohne sie fühle ich mich alleine, irgendwie nackt. Vor Konzerten habe ich außerdem einen ziemlich rituellen Tagesablauf. Ich schalte ab, mache mich leer und spare mir alles für die Bühne auf. Anders als die Leichtathleten haben wir ja nicht drei Versuche frei.

Bei einem Solo ginge das, aber mit Orchester?

Ich habe inzwischen nicht mehr so viel Angst vor den Orchestern. Sie beäugen einen kritisch und hören sehr genau zu. Ein Solist zu sein, ist ein Privileg, wir bekommen viel mehr Geld, aber wir arbeiten auch mehr und haben nicht die Sicherheit einer Festanstellung mit Pensionsanspruch. Warum nehmen Orchestermusiker eigentlich so selten ein schweres Werk mit nach Hause, warum treffen sie sich nicht in Gruppen und üben zusätzlich ihren Ligeti? Sie sind so verwöhnt. Verdammt noch mal, es ist ein Glück, wenn man dir zuhört.

Sind Orchestermusiker konservativ?

Ich spüre oft Widerstand. Es gibt viele Orchester, die spielen wie vor 50 Jahren. Sie produzieren Klone von Konzerten und Sinfonien. Dann kann man sich gleich eine Platte auflegen und Furtwängler hören. In der Kunst hat es keinen Sinn, sich zu wiederholen. Es ist wie in der Wissenschaft: Es gibt Professoren und Forscher. Wir Künstler auf der Bühne müssen forschen. Wer sich wiederholt, kann anderen das Musizieren beibringen.

Sie stammen aus Moldawien, Europas Armenhaus. Was war das für eine Kindheit?

Mein Vater war der beste Cymbalon-Spieler von Moldawien, das Land hat einen seiner besten Musiker verloren, als wir auswanderten. Wir Kinder sollten eine Zukunft haben, deshalb gingen wir nach Wien, er war dann dort ein armer Schlucker. Aber wegen uns war es ihm egal.

Wie ist es Ihnen ergangen, als Sie in diesem Sommer als Botschafterin für Terre des Hommes wieder dort waren?

Die Moldawische Republik ist ein fruchtbares Land, es gibt Obst, Gemüse, Wein, Kühe. Aber es gibt dort Menschen, die hungern, und Leute, die ihre Kinder vor Hunger verkaufen. Dort herrscht eine Ausweglosigkeit, deren Ausmaß ich mir nicht mehr vorstellen konnte. Man ist schrecklich beschämt, wenn man frisch geduscht und mit einem Frühstück im Magen nur 20 Autominuten von der Hauptstadt entfernt aus einem klimatisierten Wagen steigt und in einem Dorf vor lauter Kindern steht, die schmutzig sind, barfuß, ja, auch barfuß, und zwei Tage nichts gegessen haben. Terre des Hommes macht eine fantastische Arbeit. Sie beschenken die Leute nicht einfach, sondern implantieren ein Selbstbewusstsein in der Gesellschaft, indem sie engagierte Leute vor Ort unterstützen.

Sie haben dort am Konservatorium eine Meisterklasse gegeben. Was haben Sie den moldawischen Studenten gesagt?

Mir fällt immer wieder auf: Wer musiziert, erzählt selten eine eigene Geschichte. Die rumänische Komponistin Violetta Dinescu sagte einmal, ein Stück ist wie ein Kind, das man auf die Welt bringt und loslässt. Es wächst auf, es verändert sich mit der Zeit. Wir haben einen anderen Puls, wir atmen anders als Beethoven, das ist genau so wichtig wie die Wurzeln eines Stücks. Wenn ich im Konzert sitze, langweile ich mich oft. Wie die meisten im Publikum kenne ich das Stück und denke: Los, erzähl mir was von dir!

Sie denken sich oft Geschichten aus zur Musik, etwa zu Beethovens Kreutzer-Sonate.

Da betritt einer die Kathedrale, staunt über ihre Größe, und dann gibt es diese zwei Töne (singt), Da-raaam, immer wieder: die Sünde, das schlechte Gewissen, vielleicht eine verbotene Liebe. Es verfolgt einen, man beichtet, man wird es nicht los. Diese zwei Töne im ersten Satz müssen sehr obsessiv gespielt werden.

Und Alban Bergs „Violinkonzert“, das Sie nun in Berlin spielen?

Oh, das sind viele Geschichten. Allein der Anfang: Die leeren Saiten, die Quinten, das ist eine Geburt, ein Aufwachen, der Anfang eines Lebens. Dann wird es komplizierter, es gibt einen Rhythmus, erste Schritte, ein Walzer, das Kind kann schon tanzen. Berg hat verschiedene Temperamente eingebaut. Ein rustikales Element, das ist Walter Gropius, dann wieder der Walzer, das ist Alma Mahler, die Frau, die so viele Männer hatte ...

... und deren Tochter Manon Gropius, die jung gestorben ist, Berg das Konzert gewidmet hat.

Ich zwinge niemanden, das so zu verstehen, aber so wird es körperlicher.

Warum spielen Sie Beethoven lieber als Mozart?

Das ist nicht wahr, aber die Leute mögen meinen Beethoven lieber. Die meisten finden meinen Mozart zu karikaturesk. Dabei ist Mozart immer Oper, mit vielen Figuren, die sich ständig verändern. Sie küsst dich, sie gibt dir eine Ohrfeige, das ist Mozart. Mir ist eine Karikatur lieber als eine Kopie. Die Griechen haben auf dem Theater riesige Absätze getragen. Man muss übertreiben, wir Künstler führen ja kein Selbstgespräch.

Aber Sie mögen nicht alle Komponisten gleich gern?

Zu einigen habe ich eine besonders intensive Beziehung. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich sie gut spielen kann. Zum Beispiel Mendelssohns Violinkonzert: Es ist so schrecklich abgenudelt. Aber: Alma Rosé hat das Violinkonzert mir ihrer Damenkapelle in Auschwitz gespielt, angeblich vor der Gaskammer. Wie klingt diese Heile-Welt-Musik im KZ, was passiert dort mit dem deutschen Humanismus? Das sind solche Abgründe, dass das Konzert mich doch wieder interessiert. Ich werde nicht lockerlassen, bis ich es irgendwann doch spielen kann.

Sie haben mit dem Pianisten Fazil Say einmal tagelang über zwei Töne in einer Prokofjew-Sonate gestritten. Wie geht das?

Es war schrecklich, ich war mit Mann und Tochter bei Fazil in Istanbul. Er raucht Kette, man konnte kaum atmen vor lauter Qualm. Es fängt ja sehr langsam mit dem Klavier an, tief und getragen, und dann kommt von mir dieses tocktock und anschließend huaaaah. Das ist der KGB, der anklopft, es war genau die Zeit, als die Sonate entstand. Alle hatten Angst. Jeder große Künstler hatte unter dem Bett einen gepackten Koffer liegen, für den Fall, dass der Geheimdienst ihn abholt. Das sind diese zwei Töne, mit dem Schauder danach. Fazil wollte aber, dass ich das schön kantabel spiele, das konnte ich nicht! Wir haben drei Tage gestritten, wir sind zwei Vulkane. Aber ich habe gewonnen.

– Das Gespräch führte Christiane Peitz.

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