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Interview mit Wotan Wilke Möhring: „Aus dem Flugzeug getreten werden und ins Nichts fallen“

Bei den Möhrings rief man mit der Glocke zum Mittagessen, nur Wotan hörte sie nicht: Er drehte den Thrashmetal lauter. Und heute? Findet er Berlin „abgewrackt und aggro“.

Herr Möhring, wir sitzen im Dachgeschoss eines schicken Hotels an der Rosenthaler Straße in Berlin-Mitte. Schauen Sie mal bitte aus dem Fenster: Erkennen Sie Ihren alten Kiez wieder?

Ja, klar. Da drüben war der Eimer, schräg gegenüber der Club Delicious Doughnuts. Ich hab’ Ecke Münzstraße Neue Schönhauser gewohnt, direkt beim Alt-Berlin also. Zweiter Hinterhof, Erdgeschoss. Da konnte man sich auch nachts nicht zurückziehen, irgendjemand klopfte immer an und rief: „Ich weiß, dass du da bist!“ Einmal fiel ein Fenster raus, einfach so. Der Vermieter meinte: „Ich zahl’ nix, ihr zahlt ja auch nix.“ Wir haben mit Bauschaum eine Holzplatte eingesetzt und mit blauer Mülltüte verkleidet. Es gab immer blaustichiges Licht im Zimmer.

Sie kamen wie so viele 1990 nach Berlin. Angeblich zum Studieren.
Was heißt angeblich? Vorher war ich fast zwei Jahre auf Reisen, da hatte ich das Gefühl, ich verblöde. Ich konnte nicht mehr konzentriert ein Buch lesen, ließ mich nur treiben. War auch bombe eine Zeitlang, nur irgendwann hat’s gereicht. Ich war ein echt dienstbeflissener Student, war morgens um acht der einzige Trottel an der HdK – weil ich Bock hatte zu lernen, ich wollte Input. Dann hab’ ich gemerkt, ich komme auch so durchs Studium und bin mit Gabi Delgado …

… dem Sänger der Elektro-Punkband DAF …
… ins Nachtleben eingetaucht. Das war erfüllender als die Uni. Wir sind als DAF/Dos aufgetreten. Erstaunlicherweise hatten wir sogar einen Major-Deal und konnten ein völlig durchgeballertes Fantasy-Album machen. In Skandinavien standen sie extrem auf dieses dunkle Elektro-Zeug.

Noch eine alte Frontgeschichte: Mitte der 90er haben Sie einen illegalen Club an der Brunnenstraße 196 betrieben, das Taboo.
Eine super Location. Leider halt illegal. Mir gefiel, dass es nicht um Ausverkauf ging, sondern darum, eine gute Zeit zu haben. Keine Ahnung, wie oft ich aus dem Schlaf geschreckt bin, weil ich nicht mehr wusste, ob ich abgeschlossen hatte. Nach einem knappen Jahr war Schluss.

Blieben die Gäste aus?
Wir hatten eher, na ja, organisatorische Probleme. Zum Beispiel arbeitete bei uns eine Transe als Garderobenfrau, die hatte einen Leberschaden und fiel dauernd um. Die Getränke hab’ ich mit Domenico beschafft, der noch nicht mal seine Einwohnermeldebescheinigung ausfüllen konnte, so wenig Deutsch sprach der. Telefonieren konnten wir nur in einer Kneipe, dort hing ein Schild „50 Pfennig ein Telefonat“, doch der grantige Ostler hatte keinen Bock darauf, dass bunt gekleidete Westler seine Gegend überschwemmen, und ließ uns nicht an den Apparat. Eine wilde Zeit.

Mit welchem Gefühl laufen Sie heute über die Rosenthaler Straße?
Neulich bin ich mit meiner kleinen Tochter und meinem Sohn hier entlanggegangen, das war abgefahren. Denen kann man nichts erzählen, die wollen nur auf den nächsten Spielplatz.

Vermissen Sie das Ausgehen?
Nein, ich gehe ja noch, wenn ich will. Lieber allerdings in anderen Städten wie New York, wo ich mir keine Erinnerungen kaputt machen kann. Ich habe Vollgas gegeben, deswegen kann ich jetzt beruhigt sagen: Ich bin bereit für einen anderen Abschnitt. Heute fahre ich lieber nachts zurück zu meinen Kindern, als noch weiter durchzufeiern. Denen erkläre ich die Welt neu, das interessiert mich momentan mehr.

Sie werden alt.
Ich bilde mir ein, dass ich immer noch mehr Energie habe als diese 19-Jährigen, die bei Rock am Ring verhuscht am Rand rumstehen.

Rechtsradikale Fans beim BVB - Schlägereien und Rennerei

Berlin haben Sie auch verlassen: Vor vier Jahren sind Sie nach Köln gezogen.
Das ist der Liebe geschuldet gewesen! Na gut, ich war auch berlinmüde. Berlin ist abgewrackt und arm. Hier wühlen Leute, die so aussehen wie mein Vater, im Mülleimer nach Pfandflaschen. Berlin ist auch aggro – und ich bin jemand, der da gerne drauf einsteigt. Wenn ich drei Mal „Guten Morgen“ sage, aber keine Antwort bekomme, dann nervt mich das. Man muss immer schlucken, ich hab’ keinen Bock, davon krank zu werden. Und dann dieses Berliner „Hoppla jetzt komm’ icke, warte ma, ick mach’ schon!“ Du machst gar nix, Dicker, du bist ein fauler Sack! Bevor ich mit poröser Magenschleimhaut lebe, gehe ich lieber weg. Und natürlich wegen der Wiese hinter dem Haus.

Sie sind nicht nur Ex-Raver, sondern auch Ex-Punk. Dabei waren Sie doch ein guter Waldorfschüler, und Ihre Eltern waren auch ganz nett.
Ich war nicht ausgelastet, ich fühlte mich zum Schmutz hingezogen. Zum Beispiel kam ich einmal vom Trampen nach Hause, und der Kühlschrank war voll. Es war alles da. Mich hat angekotzt, dass es uns so gut ging.

Man wird nicht morgens wach und ist Punker. Gab es bei Ihnen eine schleichende Veränderung?
Stimmt, gerne hat man dafür die Sommerferien genutzt und kam dann am ersten Schultag mit blauen Haaren zurück. Bei mir lief das über die Musik: Suicidal Tendencies, Dead Kennedys, Hüsker Dü, Sons of Sodism aus Marl. Ich verwahrloste einfach äußerlich ein bisschen.

Die Musik haben Sie dann in Ihrem Jugendzimmer so richtig aufgedreht?
Bei uns gab es eine Glocke, mit der das Mittagessen eingeläutet wurde. Die habe ich nicht gehört. Irgendwann stand mein Bruder in der Tür und schrie: „Bist du taub, oder was?“ Dann hab’ ich extra laut aufgedreht. Später merkte ich dann, dass die Punk-Szene auch eine in sich geschlossene Gesellschaft ist, in der es strenge Regeln gibt. Einmal, auf einem Konzert, brüllten alle: „Punks are not brown!“ Nur weil einer zu lange in der Sonne gelegen hatte. Krass. Das hat sich mir eingebrannt.

Bei Borussia Dortmund, Ihrem Verein, gab es damals auch schon rechtsradikale Fans.
Wir haben stundenlang mit denen gelabert, statt denen einfach eine mitzugeben. Hat nichts gebracht, am Ende sind wir doch gerannt. Ich hör’ noch die Schritte hinter mir, durch die Fußgängerzone, die Treppe runter zum Bahnhof, hechel, hechel, mit Blut in der Lunge in den Zug gesprungen und gerade wieder so den Glatzen entwischt.

Sie haben nie richtig Prügel bekommen?
Da gab es eine Party in Herne, ein paar Glatzen wollten die stören. Ich hab’ gesagt: „Lasst uns alle zusammen rausgehen und die vertreiben!“ Die Tür fiel zu – ich war der einzige Depp, der draußen stand. Ich hab’ richtig aufs Fressbrett gekriegt und lag eine Woche im Krankenhaus.

Und Ihre Eltern, was haben die dazu gesagt?
Ein Jahr lang hab’ ich nicht mit meinem Vater geredet, das war schon hart. Wenn ich erst um Mitternacht nach Hause kam und ihm nur den Finger zeigte, hat ihn das irre gemacht. Mittlerweile verstehe ich das natürlich: Jahrelang hat er mir den Arsch abgewischt, ist mit mir zum Arzt gerannt, und dann kommt mit 16 – verdammt kacke – nichts vom Sohn zurück. Außerdem ist er selber ohne Vater aufgewachsen.

Bei welchem Anlass haben Sie wieder zu reden begonnen?
Nach der Farbbeutelaktion in Herne. Die Bullen, wie wir sie damals nannten, hatten uns hops genommen, weil wir Autos und die Mc-Donald’s-Filiale beworfen hatten. Da hat mein Vater mich abgeholt, und wir haben zusammen saubergemacht. Er war es, der höchstpersönlich einen Tritt, Eimer und Wasser geholt hat. Die ganze Nacht haben wir zusammen geputzt, bis er morgens seinen ersten Geschäftstermin hatte. Dieses Kameradschaftliche fand ich unvergesslich. Das war eine Wende zwischen uns, wir waren von da an extrem eng. Weil wir uns wahrscheinlich auch ähnlich waren.

Angeblich hat man Sie in ein Lager für schwer erziehbare Jungs in Upstate New York geschickt. Ist da was dran?
Wie bitte? Nein. Ich sollte während der Schule ein Sozialpraktikum machen, weil ich wieder klarkommen musste. Da habe ich mir ein Dorf für geistig Behinderte ausgesucht.

Kaum hatten Sie amerikanischen Boden betreten, haben Sie auch schon Ihren Ausweis gefälscht. Keine gute Idee.
Was sollte ich machen? Ich konnte mir kein Bier kaufen in diesem Land, unter 21. Also bin ich zu einem dieser China-Läden auf der 42nd Street, wo man Fake-Tourist-IDs kaufen konnte. Der Chinese so: „You häv tu put Soschalsekurritinumba“. Und ich: „Hä?“ Grenzwertig. Erwischt worden bin ich nie.

Wie jeder amtliche Abenteurer sind auch Sie danach quer durch Amerika. Mit Jack Kerouac im Gepäck?
Bombentrip! Der ganze Bus voller Hippies, durch die Indianerreservate. Alles war erlaubt im Bus, außer Zigaretten rauchen: kiffen, saufen, alles zu Ten Years After. Irgendwann erreichten wir San Francisco, wo ich am Busbahnhof übernachtet und Pizzareste gesammelt habe, zum Essen.

Das kannten Sie sicher aus dem Ruhrgebiet. Dort sind Busbahnhöfe auch Zentren der Jugendkultur.
Genau! In San Francisco, stellte ich schnell fest, waren Punks viel mehr am Rande der Gesellschaft. Sie machten auch gemeinsame Sache mit den Oi-Glatzen, weil die wussten, wo es was zu essen gibt. Unsere gemeinsamen Feinde waren die Rednecks, einmal wollten wir in eine ihrer Kneipen. Die ließen uns natürlich nicht rein. Dann ist einer gegen die Scheibe gesprungen, und es kamen sechs oder sieben Mittvierziger mit Baseballkeulen raus und hauten dem auf den Schädel, dass es knackte. Der ist hingefallen und das Gehirn quoll ihm aus dem Schädel, ganz weiß. Und ich stand daneben mit meiner Fake-ID und konnte nichts machen. Die anderen zerrten mich weg.

Grenzerfahrung Bundeswehr: Die Härtesten unter den Durchgeknallten.

Herr Möhring: Waldorfschule, Punk-Attitüden, Behindertendorf, Kiffen im Hippie-Bus – warum um Himmels willen haben Sie den Wehrdienst nicht verweigert?
Tja, ich bin wohl der einzige westdeutsche Schauspieler, der beim Bund war! Es gab einen Moment, da wollte ich verweigern, weil ich gerne in diesem Behindertendorf Zivi gemacht hätte. Da hatte ich nämlich auch meine erste große Liebe kennengelernt. Das wäre aber damals nur für drei Jahre gegangen oder mithilfe der Kirche, darauf hatte ich überhaupt keinen Bock. Ich habe mich dann zum Bund entschlossen, weil ich mich mit allen überwerfen wollte. Ich dachte, wenn schon Bund, dann richtig – so landete ich nach dem Grundwehrdienst bei den Fallschirmjägern, das sind die Härtesten unter den Durchgeknallten.

Was haben Sie dort gelernt?
Wie Menschen sich in Extremsituationen verhalten. Also nach 72 Stunden Schlafentzug zum Beispiel. Nicht nur beim Sex lernst du jemanden volle Kanne kennen, sondern auch, wenn du im Flugzeug sitzt und zusammen rausspringen sollst. Auch nachts mit Gepäck. Da hab’ ich Trottel mich immer als Erster gemeldet. Du bist so beladen, dass du nur aus dem Flugzeug getreten werden kannst, und dann fällst du wie ein Stein ins Nichts. Toll.

Sie sind ja irre. Kein normaler Mensch tut so etwas freiwillig.
Das Adrenalin macht süchtig. Nach zwei Jahren hatte ich auch keinen Bock mehr, da wird’s politisch und du sollst auf einmal andere ausbilden. Ich fand es spannend, hinter die Kulissen zu gucken.

Sven Regener hat mal gesagt, der Übergang von einem freien Leben zum Kasernenhof sei geradezu unmenschlich.
Fand ich auch, absolut. Du kommst dir vor wie Sean Penn in einem Knastfilm. Es gab aber auch die unfassbar tolle Gemeinschaft, in der man sich auch verlieren kann. Diese Kasernierung war eine Grenzerfahrung für mich. Klingt blöd, aber ich dachte, ich brauche das mal.

Eine weitere interessante berufliche Station Ihres Lebens: Elektriker haben Sie auch gelernt. Können Sie noch Leitungen verlegen?
Nee. Angst vor Kabeln hab’ ich deswegen immerhin nicht.

Schon mal einen Schlag bekommen?
Türlich.

Lassen Sie uns raten: Das fanden Sie bestimmt total spannend, wegen des Adrenalins?
Es war insofern ungeil, weil man ja weiß, du bekommst einen Schlag und kannst noch 24 Stunden später sterben, durch die Herzrhythmusstörungen.

Diese vielen Jobs, die Sie gemacht und Szenen, zu denen Sie gehört haben – gibt es eine bessere Vorbereitung auf den Beruf des Schauspielers?
Das war kein bewusstes Vorbereiten. Das war kein Zickzackweg für mich. Mein Weg war gerade und wirkt nur im Rückblick eigenartig. Ich tue, was ich tun muss, folge meiner inneren Stimme. Ich mache nichts, was mich aufhält.

Sie sind in die Schauspielerei nur so reingerutscht und machen das jetzt seit 15 Jahren. Wäre es nicht an der Zeit, etwas Neues zu versuchen?
Wozu? In diesem Job kann ich mich ausprobieren wie früher – nur ohne die Konsequenzen. Dafür kriege ich auch noch Geld und lerne was! Dieses Sich-von-außen-Anschauen, das kannst du nur als Schauspieler. Plötzlich merkte ich: Wenn ich traurig bin, sehe ich aus wie wütend. Das ist, weswegen ich mich in einer Beziehung immer streite!

In „Das Leben ist nichts für Feiglinge“ streiten Sie mit Ihrer rebellischen Filmtochter. Ein guter Vorgeschmack?
Das wird hoffentlich auch auf mich zukommen. Kinder müssen rebellisch sein. Wenn man in einem gewissen Alter nicht rebelliert, ist irgendwas schief gelaufen.

Wo träfe man Sie am härtesten?
Ich glaube, es wird irgendwas mit der Entwicklung der neuen Medien zu tun haben. Neulich fragte ernsthaft jemand, was ich tun würde, wenn meine Tochter einen Iro hätte. Dann würde ich sagen: „Du bist voll 80er.“ Es wird natürlich etwas anderes sein.

Es gibt ein Zitat von Ihnen: „Nicht jeder kann jede Rolle spielen, weil nicht jeder eine Aura dafür hat.“ Welche Aura haben Sie?
Du hast ja eine Körperlichkeit, das ist dein Medium. Ich hab’ schon echt viel ausprobiert, von ganz schwach bis ganz stark. Du brauchst ein Türchen, das dich mit der Rolle verbindet. Was mir persönlich schwerfällt? Das Hochintellektuelle.

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