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Forscherblick. Der 51-jährige Dokumentarist Andres Veiel („Black Box BRD“) ergründet in seinem ersten Spielfilm die Vorgeschichte des deutschen Terrorismus, als Familienaufstellung und Liebeskomplex.

© snapshot-photography

Interview: Andres Veiel: "Ich wollte ins Ursachendickicht rein"

Der Dokumentarist Andres Veiel über "Wer wenn nicht wir" im Berlinale-Wettbewerb, Bernward Vesper, die freie Liebe und die Anfänge der RAF.

Herr Veiel, Sie haben als Jugendlicher in Stuttgart die Stammheim-Prozesse verfolgt. In „Black Box BRD“ stellten Sie die Biografien eines RAF-Opfers und eines Täters gegenüber, auch das Doku-Theaterstück „Der Kick“ untersucht, warum Menschen zu Tätern werden. „Wer wenn nicht wir“ befasst sich mit der Vorgeschichte der RAF. Was wollten Sie diesmal ergründen?

Es gibt ja regelrechte Bilderschleifen über die Anfänge der RAF. Der 2. Juni 1967, der Tod von Benno Ohnesorg, das Attentat auf Rudi Dutschke, Wut, Ohnmacht – und die Weggabelung: hier der Marsch durch die Institutionen, dort die RAF. Verblendung, Anmaßung, Terrorismus, das ist eine scheinbar logische Abfolge. Aber es ist komplizierter: Hunderttausende gingen auf die Straße, warum wurden nicht mehr Demonstranten militant? In Italien waren es 500, in Argentinien standen 50 000 den Tupamaros nahe. Ich wollte ins Ursachendickicht rein.

Also die Herkunft, Papamamakind?

Es ging um mehr. Ich las Gerd Koenens Buch „Vesper, Ensslin, Baader“ und viele Dokumente, sprach mit etwa 40 Zeitzeugen. Baader und Ensslin, das war nicht der Kampf gegen faschistoide Eltern. Deren Väter wären beinahe selbst im NS-Widerstand gelandet. Andreas Baaders Mutter meinte sogar, ihr Sohn habe zu Ende geführt, was ihr Mann nicht gewagt hat. Das ist keine klare Front.

Sie wollen ein vermeintlich gesichertes Geschichtsbild revidieren?

Es geht auch um die Gegenwart. Um eine Frage, die uns beim Blick auf Ägypten genauso umtreibt wie etwa bei den Protesten gegen Stuttgart 21. Wann kippt eine scheinbar saturierte Gesellschaft? Wann zündet der Funke? Warum wächst sich der eine Protest zum Flächenbrand aus, aber die Mutter, die 40 Stunden arbeitet und 900 Euro verdient, bleibt friedlich. Das treibt mich auch persönlich um. Im Oktober 2008, kurz nach dem Finanzcrash, wurde selbst in der „FAZ“ die Systemfrage gestellt. Vier Wochen lang stand der Kapitalismus grundsätzlich infrage, sein Scheitern schien besiegelt. Aber wieso gab es keine Revolution, bloß kosmetische Konjunkturprogramme?

Warum haben Sie ausgerechnet Bernward Vesper zur Hauptfigur gemacht, der als Sohn des NS-Schriftstellers Will Vesper das autobiografische Romanfragment „Die Reise“ schrieb, mit Gudrun Ensslin ein Kind hatte und sich 1971 das Leben nahm?

Weil er nicht den Weg in die Gewalt ging, obwohl es bei ihm besonders nahegelegen hätte. Die Denkmuster greifen hier erst recht nicht: Kampf mit dem Vater, ja, aber gleichzeitig war da eine große Identifikation. Gudrun Ensslin und Bernward Vesper geben gemeinsam die Schriften des Nazi-Vaters heraus und verteidigen das offensiv. Vielleicht brauchten sie einfach Geld, vielleicht hat Gudrun es aus Liebe zu Bernward getan. Für Bernward war der Bruch mit den Eltern jedenfalls unglaublich schwer, es war Liebe im Spiel, Bindung, Vertrauen. Der Vater hat ihm den „Geniezucker“ verabreicht, wie Gerd Koenen es nennt. Die Kernfrage ist: Gibt es ein Entkommen? Wobei an die Stelle des Handelns bei ihm später das eigene Schreiben trat.

Fühlen Sie sich ihm nahe, weil auch er mit künstlerischen Mitteln agiert?

Seine Tragik in der Dreier-Konstellation mit Ensslin und Baader hat mich besonders berührt. Er hat mit Gudrun die Liebe seines Lebens verloren, ist mit dem Kind überfordert, im Verlag gescheitert, es bleibt nur das Schreiben. Aber er kann den Dämon nicht bannen, es zerfleischt ihn bei der Abrechnung mit dem Vater.

Die frühen sechziger Jahre, das war das Stickige der Nachkriegsrepublik und gleichzeitig schon Aufbruchstimmung. Eine Mischung, die die Jugend überfordern musste?

Auch da stimmt unser Geschichtsbild nicht. Die sexuelle Befreiung begann nicht erst mit Oswalt Kolle und der Pille, es ging früher los. Ingmar Bergmans Skandalfilm „Das Schweigen“, Hans Henny Jahnns obsessive Prosa, Truffauts Ménage à trois in „Jules et Jim“, das war lange vor 68. Eine Parallelwelt mitten im Mief.

Wie bekommt man das auf die Leinwand?

Die freie Liebe fand 1965 im Ehebett mit Schlafanzügen statt, die Matratzenlager kamen erst später. Die Schauspieler waren erstaunt: Warum nicht auf dem Sofa, warum Schlafanzüge? Nein, es müssen erst brav die Ohrclips abgezogen werden, und neben dem Ehebett tickt der Wecker. Der Ausstatter Christian Goldbeck und ich haben das genau überlegt: Wann verzichten wir zum ersten Mal auf die Tapete? Wir haben uns am Klischee der protestantisch-pietistischen Enge im Schwabenland abgearbeitet und viele Räume entkernt. Mit der entstandenen Tiefe haben wir auch die Innenwelten der Personen geweitet.

„Wer wenn nicht wir“ hat eine episodische Erzählstruktur. Nach welchen Kriterien haben Sie Geschichten weggelassen?

Das erste Treatment hatte 350 Minuten. Andreas Baaders Lebensroman war zunächst durchgehend miterzählt, in der Endfassung taucht er erst 1967 auf, als wichtigste Nebenfigur. Aber es durfte nicht Kolportage werden. Ich will Angebote machen, keine These illustrieren. Vor allem wollte ich keine Dramatisierung mit Showdown. Die Szene hatte ich sogar geschrieben: Andreas im Auto mit laufendem Motor, Gudrun will mit nach Paris, Bernward kommt runter in die Tiefgarage, draußen ist Felix, im anderen Auto. Bernward sagt zu Gudrun: Verabschiede dich wenigstens von unserem Sohn. Sie geht ein paar Schritte Richtung Felix, springt aber doch zu Baader ins Auto. Irgendwie kam mir die Szene bekannt vor. Und sie wäre anmaßend gewesen: Hätte Gudrun sich anders entschieden, hätte es die RAF nicht gegeben …

Sie korrigieren vor allem das Geschichtsbild von Gudrun Ensslin?

Auch das Bild von der Mutter, die eiskalt ihr Kind verlässt, stimmt nicht: Die Entscheidung gegen das Kind ist ein derart horrender Schmerz, dass es mindestens die Weltrevolution sein muss, wegen der sie sich von Felix trennt. Das ist der Moment, an dem die Liebesgeschichte in Politik umschlägt.

Der Film ist durch Archivmaterial rhythmisiert. Warum diese Unterbrechungen?

Ich wollte diese Irritation. Am Anfang zerschlägt es die Handlung ja, die Bilder vom Eichmann-Prozess haben erstmal nichts mit Bernward Vesper zu tun. Aber nach und nach verquickt sich das und am Ende sind Ensslin und Baader die Protagonisten der Archivbilder. Es sind bekannte Bilder, aber auch sie zeigen Inszenierungen.

Der Aufbruch, die Machtspiele und die Gewalt werden nicht zuletzt über den Sex ausgetragen. Wie haben Sie den inszeniert?

Sex ist die größte Lüge im Spielfilm. Man will keinen Porno machen und keine Gymnastik, aber meistens ist es das doch. Mir ging es um die Sprache der Körper, die etwas erzählt, was über Worte so nicht ausgedrückt werden kann: Abhängigkeit, Obsession, Unberechenbarkeit. Andreas und Gudrun treffen nach 14 Monaten Knast aufeinander mit verstörten, übersteigerten Erwartungen. Es sind zwei hoch empfindliche Körper, die nicht aufeinander eingestellt sind. Er demütigt sie, sie bietet sich an, es kann nur schiefgehen. Es gibt einen Moment des Stillstands, einen Blick nach draußen, in die Dämmerung, das ist der Moment der größten Nähe. Die Choreografie haben wir sehr genau geprobt, damit am Ende die Emotionen im Bild sind und nicht die Gymnastik.

Gute Sexszenen in der Filmgeschichte?

„Wenn der Postmann zweimal klingelt“, „Wenn die Gondeln Trauer tragen“, „Intimacy“ von Patrice Chéreau.

„Wer wenn nicht wir“ ist Ihr erster Spielfilm. Was ist der größte Unterschied zum dokumentarischen Arbeiten?

Dokumentarfilm ist schwerer. Ein Schauspieler hat selbst in den intimsten Momenten den Schutz der Rolle. Gudrun Ensslin zieht sich aus, nicht Lena Lauzemis. Im Dokumentarfilm geben sich die Protagonisten wirklich Blößen. Und seit es das Internet gibt, taucht alles einmal Gesagte aus dem Zusammenhang gerissen wieder auf; es hängt den Personen ein Leben an. Das macht es schwerer, an gesellschaftlich neuralgischen Punkten dokumentarisch zu arbeiten. Ein Grund mehr, es zu tun.

Gerade läuft der Prozess gegen Verena Becker, es geht um den Mord an Generalstaatsanwalt Buback 1977. Was an der RAF wird noch lange nicht verstanden und vergangen sein?

Vor allem die Rolle der Geheimdienste. Die des Agenten Peter Urbach. Die Tatsache, dass sämtliche Brandsätze in der Frühzeit der RAF vom Verfassungsschutz kamen. Die Akten sind vernichtet oder unter Verschluss, wegen Informantenschutz, auch bei Verena Becker. Ich bin kein Verschwörungstheoretiker, aber auch bei mir wurde eingebrochen, Dokumente sind verschwunden. Da wird eisern gemauert, weil staatliche Institutionen ins Zwielicht geraten. Ich hoffe, die Beteiligten reden irgendwann doch noch. Viele Geschichten sind noch nicht erzählt.

– Das Gespräch führte Christiane Peitz.

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