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Erinnerungsort. Inge Deutschkron im Museum für Otto Weidt, der auch Juden in seiner Blindenwerkstatt Arbeit gegeben hatte.

© John Macdougall/AFP

Inge Deutschkron zum 95.: Jetzt bleibste!

Inge Deutschkron, Sozialdemokratin, Autorin, Zeitzeugin und Shoah-Überlebende, wird 95 Jahre alt. Eine Würdigung.

Von Caroline Fetscher

Zum 95. Mal hat Inge Deutschkron heute Geburtstag. Eine Kapelle wird für die Gäste spielen, erzählt sie in ihrem Charlottenburger Seniorenapartment. Inge Deutschkron liebt Musik. Viele Freunde werden da sein, darunter sozialdemokratische Weggefährten und Grips Theater-Leute, die seit 1989 das Stück zu ihrem Leben aufführen: „Ab heute heißt du Sara“. Es ist die Bühnenadaptation der 1978 erschienenen Autobiografie der Shoah-Überlebenden „Ich trug den gelben Stern“. Hunderttausende haben das Buch gelesen und das Stück gesehen. Fotografien von Bühnenszenen schmücken eine Wand in Deutschkrons Wohnung, nah am Regal mit den von ihr verfassten Büchern, die in viele Sprachen übersetzt wurden. 2013 hielt die Autorin eine Rede vor dem Bundestag zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.

Ihren heutigen Geburtstag begeht Inge Deutschkron geachtet, verehrt, erfolgreich. Ihren 21. Geburtstag im Sommer 1943, den Tag, an dem sie volljährig wurde, erlebte sie als Verfolgte in Berlin, geächtet, entrechtet, eine Jüdin in der Illegalität. Mit ihrer Mutter zog sie von Versteck zu Versteck, in ständiger Angst. Seit Propagandaminister Goebbels am 19. Juni 1943 verkündet hatte, Berlin sei „judenfrei“ existierten Menschen wie Inge Deutschkron und ihre Mutter offiziell nicht mehr. Auf die brutale, sukzessive Entrechtung ab 1933 sollte die „Endlösung“ folgen. Von 1941 bis 1945 verließen allein 63 Todestransporte mit mehr als 50.000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern Berlin Richtung Osten.

1945 gab es in Berlin noch 1700 Juden

„Bleib übrig!“, den unter Juden im Alltag üblichen Abschiedsgruß, hörte Inge als junges Mädchen oft. Übrig blieben in der Stadt Berlin, nach Emigration, Deportation und Massenmord, etwa 1700 Juden, von nichtjüdischen Berlinern versteckt und geschützt. „Jedenfalls sind das die, von denen man weiß“, sagt Deutschkron heute. Vermutlich sind nicht alle Fälle – Glücksfälle – bekannt. Nach dem Krieg begann sie sich für die Retter, die „stillen Helden“ einzusetzen, vor allem für das Andenken von Otto Weidt, in dessen Blindenwerkstatt sie selber unter falschem Namen zeitweise Arbeit fand, und dem etwa zwanzig Verfolgte, die bei ihm Besen und Bürsten herstellten, ihr Überleben verdankten. In Berlin erinnert ein Museum an Otto Weidt, es entstand unterstützt von Inge Deutschkron.

Auf dem Stadtplan ihres Überlebens finden sich die rettenden Adressen, von denen die meisten SPD-Genossen gehörten: Uhlandstraße 167/168, Konstanzer Straße 3, Westfälische Straße 64, Olivaer Straße 2, Ravensberger Straße 4, Sächsische Straße 26, eine Laube, eine Datsche, ein Kellerraum und zum Schluss, Anfang 1945, ein Ziegenstall in Potsdam. Dann kamen die Alliierten.

Als sie 11 Jahre alt ist, erklärt ihr die Mutter: Wir sind Juden

Als Vorboten hatten die Befreier Bomben geschickt, wie ein gutes Feuerwerk fielen sie an Inges 21. Geburtstag, den sie versteckt in der Sächsischen Straße erlebte. Am Abend hatte ihre Tante eine Flasche Wein „herbeigezaubert“, nachts erwachte Inge bei Sirenenheulen. Von der Druckwelle war ihr in der winzigen Kammer das Fenster aufs Bett gekracht. Das Haus schwankte, Briten bombardierten den Fehrbelliner Platz, wo das Oberkommando des Heeres saß und eine Zentrale der SS. Das Versteck in der Sächsischen Straße war verwüstet: „Aber wir haben innerlich gejubelt“. Deutschkrons Augen leuchten noch jetzt beim Erinnern: „Da kamen die Briten, sie zeigen ihre Kraft.“ Vom heimlichen BBC-Hören, „leise, unter einer Wolldecke“, wusste man, dass die Gegner des Faschismus zum Siegen entschlossen waren. Auf Thomas Manns BBC-Sendungen ist Deutschkron nicht gut zu sprechen: „Darüber habe ich geschimpft! Er war in Sicherheit in Kalifornien und wir sollten hier den Aufstand machen – wie denn?“

1933, sie war elf Jahre alt, hatte die Mutter ihr eröffnet, sie sei jüdisch. Aufgewachsen in einem sozialdemokratischen Elternhaus und als Schülerin einer weltlichen Schule ohne Religionsunterricht wusste sie nichts damit anzufangen. „Die Nazis haben mich zur Jüdin gemacht. So einfach ist das.“ Religion ist ihr bis heute fremd. Inge Deutschkron glaubt nicht an Gott, schon gar nicht nach Auschwitz, sondern „an die Gleichberechtigung aller Menschen“. Die meisten waren Christen, damals im NS-Deutschland. Was an ihnen war christlich?

Menschenleer waren die Straßen auf einmal, wenn die Gestapo vorgefahren kam, mit Polizeiautos und Möbelwagen, um Juden abzuholen. Verstohlen lugten Nachbarn hinter Gardinen hervor, und hatten nachher nichts gesehen. „Wegschauen“, beharrt Inge Deutschkron, „war das größte Verbrechen“. Deutsche Nachbarn konnten aber durchaus aufmerksam sein – beim Verdacht, dass jemand Juden versteckte: „Sie haben aber schon lange Besuch…“ Solche Bemerkungen waren Signale zum Wechseln des Quartiers für Mutter und Tochter.

Der Ehemann und Vater war 1939 nach England geflüchtet. Als er dort die Gebühren verdient hatte, um die Familie nachzuholen, war die Ausreise unmöglich geworden. Martin Deutschkron, promovierter Oberstudienrat für Latein, Griechisch und Französisch, war 1933 zwangspensioniert worden. Ein Dorn im Auge war dem NS-Regime vor allem sein Engagement für die verbotene SPD. Doch als guter, deutscher Beamter glaubte er an sein Land. „Es kann ja nicht mehr lange dauern“ war die gängige Beschwichtigungsformel. Erst nach der Reichspogromnacht 1938, erzählt Inge Deutschkron, „begann das Schlangestehen nach Visa vor den Konsulaten“. 1939 sollte Martin Deutschkron seinen Namen ändern: Ein Jude könne nicht das Wort „deutsch“ im Namen tragen. Da packte der Vater die Koffer. Mitnehmen durften Auswanderer 10 Reichsmark und ihren Trauring.

Für jeden Tag "Illegalität" erhielt sie fünf Mark

Was bedeutet Inge Deutschkron heute das Wort „deutsch“? Wenig. „Bei der Nationalhymne singe ich nicht mit. Nein. Das geht nicht.“ Sie macht eine Pause. „Man hätte nach 1949 nicht wieder dasselbe Lied mit derselben Melodie einführen sollen.“ Es war taktlos, falsch. Wie so vieles damals.

Nach dem Krieg wollten die bundesdeutschen Behörden Martin Deutschkron die nach NS-Gesetz gekürzte Pension geben. Seine Tochter sollte für jeden Tag in der „Illegalität“ fünf Mark Entschädigung erhalten. Beim Antrag für den Pass der Bundesrepublik wollte die Beamtin partout den zwangsweise zugeteilten Namen „Sara“ aufnehmen. Wusste sie nicht? Ab 1. Januar 1939 mussten Juden die zusätzlichen Vornamen „Sara“ oder „Israel“ annehmen. Eine sadistische Bürokratie ersann alles, was Recht, Würde und Lebensfreude verletzt, dem physischen Mord ging ein sozialer Mord voraus. Nicht nur aus Schulen und Ämtern wurden Juden gedrängt, bald nach 1935 war ihnen der Zutritt verweigert zu Kinos, Bibliotheken, Parks, Schwimmbädern und Restaurants. Auf der Straße konnte es passieren, erinnert sich Deutschkron, dass ein Polizist mit einem Bleistift prüfte, ob der Judenstern fest genug am Mantel angenäht war.

Jüdische Schüler waren von Klassenfahrten ausgeschlossen

Nicht mehr besitzen oder erwerben durften Juden: Reisepass und Führerschein, Radios, Zeitungsabonnements, Telefone, Fotoapparate, Schreibmaschinen und Fahrräder, Haustiere, Schmuck, Pelzmäntel, Silberbesteck, Geldrücklagen. Nicht einmal Seife.

Es galten Sperrstunden und das Verbot, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Bei einer Kontrolle in der S-Bahn entging Inge Deutschkron knapp der Festnahme durch NS-Schergen. Nach den Nürnberger Rassengesetzen durfte sie nicht mehr am Schwimmunterricht, an Schulausflügen und Klassenfahrten teilnehmen. Beklemmend erinnert dieser Aspekt der Ausgrenzung daran, dass in der Gegenwart manche muslimischen Eltern ihre Töchter von eben solchen Vergnügungen fernhalten wollen. „Keine leichte Sache“, seufzt Inge Deutschkron. „Man muss mit den Eltern sprechen.“ Bei der Integration, die ihr am Herzen liegt, erkennt sie Versäumnisse vor allem bei der CDU, die sich gegen die Realität von Deutschland als Einwanderungsland gesperrt hat: „Ein großer Fehler.“

Inge Deutschkron mit dem damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck im Berliner Otto-Weidt-Museum.
Inge Deutschkron mit dem damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck im Berliner Otto-Weidt-Museum.

© REUTERS

1946 gingen Mutter und Tochter zum Vater nach England, wo Inge im Büro der Sozialistischen Internationale arbeitete. 1955 zog sie nach Bonn, als Korrespondentin der israelischen Zeitung Ma'ariv, für die sie auch über die Auschwitz-Prozesse schrieb. Öffentlich nannte sie Hans Globke, Staatssekretär unter Adenauer und ehemals Kommentator der „Nürnberger Rassegesetze“ einen „Schweinehund“. Angewidert von den vielen Ex-Nazis in hohen Ämtern siedelte Inge Deutschkron 1972 um nach Israel und arbeitete in der Redaktion von Ma'ariv.

In den Neunzigerjahren zog Inge Deutschkron wieder nach Berlin

Auf einer Pressereise nach Ägypten, erinnert sie sich lebhaft, war sie mit der Ehefrau des Präsidenten Sadat auf einem Dorffest, wo Frauen mit ihnen tanzten und ein arabisches Kinderorchester die israelische Hymne spielte. Der Frieden im Nahen Osten schien nah. Deutschkrons Sympathie für Israel, „das kleine, demokratische Land umgeben von feindseligen Nichtdemokratien“ hat Bestand. Sie weiß, wovon sie spricht.

1988 meldete sich das Grips Theater in Tel-Aviv: Ihr Buch als Stück, inszeniert in ihrem Berlin – sie konnte nicht Nein sagen und pendelte ab dann zwischen Berlin und Tel Aviv. Um 1992, 1993 gab es in Deutschland eine neue Welle des Rechtsradikalismus. Die Zeitzeugin erhielt antisemitische Drohanrufe, „Nazipost“, sagt sie. Sie fühlte sich, wieder, ungeschützt in Berlin. Am 4. November 1992 berichtete der Tagesspiegel davon unter der Überschrift: „Ich weiß nicht, was ich in diesem Land noch soll“ – und dann gab es eine wahre Flut solidarischer Zuschriften. Vor allem die Kinderbriefe waren für die Adressatin „ein Grund zu sagen: Jetzt bleibste“. Nochmal klang darin das Echo von „Bleib übrig!“

Während des NS-Terrors, als Millionen Juden ermordet wurden, musste Inge Deutschkron untertauchen. Danach ist sie aufgetaucht, um Millionen über das Geschehene zu berichten. Dem Irrsinn des Zivilisationsbruchs hat sie ein sinnvolles, zweites Leben abgerungen. Was das heißt, können die Nachgeborenen nur ahnen.

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