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Indien, ein Land zwischen Tradition und Moderne. Hier das traditionelle Wettruder-Festival am Rudrasagar See, südöstlich von Agartala.

© Agartala- Sushanta Das/PTI/dpa

Indische Schriftsteller beim Literaturfestival: Alles wandelt sich

Viele Sprachen, eine Literatur: Indische Schriftstellerinnen und Schriftsteller demonstrieren beim Literaturfestival die Vielfalt des Landes.

Über knapp 3500 Kilometer dehnt sich der indische Subkontinent von Norden nach Süden aus. Über zwanzig offizielle Sprachen werden gesprochen, daneben tausende von Dialekten. Es gibt also viele Sprachen, aber nur eine Literatur, wie es die indische Autorin Namita Gokhale auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin ausdrückte. Schon die äußere Erscheinung der Autoren spiegelt die Vielfalt des Landes wider. Perumal Murugan tritt in einem traditionellen Wickelrock und Sandalen auf. Er stammt aus einer Bauernfamilie, die Eltern waren Analphabeten, er veröffentlichte zehn Romane und arbeitet als Professor für tamilische Literatur in Südindien. Murugan gilt als herausragende Stimme der tamilischen Literatur, in seinem Schreiben hinterfragt er für selbstverständlich gehaltene Normen.

Mit seinem Roman „Madhurobhagan“ (2010) – in der englischen Übersetzung „One Part Woman“– löste Murugan wütende Proteste aus. Ihm wurde vorgeworfen, Frauen zu diffamieren und Blasphemie zu betreiben, er musste sich offiziell entschuldigen und durfte seine Romane nicht weiter verkaufen. Daraufhin erklärte er seinen Tod als Schriftsteller: „Perumal Murugan the writer is dead“, schrieb er auf seiner Facebookseite.

Perumal Murugan zeigt sich in seiner Erscheinung und seinen Romanen offensichtlich mit indischen Traditionen verbunden. Amit Chaudhuri, Schriftsteller und Musiker, tritt dagegen zurückhaltender auf. Aufgewachsen in Mumbai, lehrt er heute nach akademischen Stationen in Cambridge und Oxford zeitgenössische Literatur in England und lebt in Kalkutta. Seine Romane vermitteln ein Bild moderner Mittelstandsfamilien in der Großstadt. Dieses Bild liefert er weniger über die Handlung – die langweilt ihn nach eigener Aussage. Stattdessen konzentriert er sich auf die Beobachtungen und Empfindungen seiner Figuren, denn die Schönheit einer Geschichte, so Chaudhuri, habe weniger mit der Handlung als mit Orten und Bildern zu tun. Chaudhuri ist der intellektuellste unter den eingeladenen indischen Autoren, seine Einflüsse umfassen D.H. Lawrence, V.S. Naipaul und Jacques Derrida. Das alte Indien scheint in seinen Romanen nur noch in Form von traditioneller Kleidung und landestypischem Essen auf.

Innere Ordnung im großen Chaos

Die Spannung zwischen Tradition und urbaner Moderne ist auch Thema in den Romanen von Namita Gokhale, der dritten beeindruckenden Erscheinung. Vielseitig engagiert und Gründerin eines der größten Literaturfestivals der Welt in Jaipur, ist sie eng verbunden mit ihrer Herkunftsregion, einem Tal an den Ausläufen des Himalaya. Dort herrscht eine andere Hierarchie: weil es an Männern fehlte, übernahmen Frauen die Führung und zeigen bis heute eine fast „erschreckende Stärke“. Starke Frauen stehen auch im Zentrum ihrer Romane, immer wieder geht es um die Suche nach Unabhängigkeit in einer patriarchalischen Gesellschaft. „Things to Leave Behind" (2016), ihr neuester Roman, ist ein historisches Panorama, das von Kontinuität und Wandel gleichermaßen zeugt. Laut Gokhale ist ein Teil der Bevölkerung einer Vergangenheit verhaftet, die es so nie gab, vernünftige Menschen würden verurteilt und Schriftsteller wie Perumal Murugan der Zensur unterworfen, weil er etwa das Kastensystem kritisch verhandelt.

Indien ist ein vielfältiges Land, das Kastensystem entspricht auch einem Wunsch nach innerer Ordnung im großen Chaos. Einem Chaos, das auch auf den übereilten Abzug der britischen Kolonialmacht zurückzuführen ist. Nach siebzig Jahren der Unabhängigkeit von Großbritannien, meint Gokhale, würde man in Indien langsam auch den Schmerz über die Teilung des Landes und die Millionen Toten und Vertriebenen zulassen.

Anne-Sophie Schmidt

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