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Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges. Hiam Abbass (rechts) spielt eine dreifache Mutter, die das Leben ihrer Familie zu schützen versucht. Ihr zur Seite steht das Dienstmädchen Delhani (Juliette Navis).

© Weltkino

Im Kino: „Innen Leben“: Die syrische Tragödie auf engstem Raum

Draußen tobt der Krieg. Drinnen verbarrikadiert sich eine Familie. „Innen Leben“ von Philippe Van Leeuws macht den Syrienkonflikt zur Studie menschlicher Willensstärke.

Von Andreas Busche

Schuss und Gegenschuss. Dieses Einstellungspaar bildet theoretisch eine formidable establishing sequence. Gibt es eigentlich auch so etwas wie einen filmischen Gegen-Blick? Der Blick am Anfang von Philippe Van Leeuws „Innen Leben“, es ist der eines alten Mannes, richtet sich nach draußen. Regungslos steht er am Fenster und beobachtet eine Straßenszene in Damaskus. Ein Händler, umringt von Männern, verkauft zwischen zerbombten Häuserruinen seine Waren. Plötzlich fällt ein Schuss, ein richtiger diesmal.

Die Gruppe stiebt panisch auseinander, die Männer bringen sich in Seitengassen in Sicherheit. Ein Scharfschütze hat von einem der umliegenden Dächer Maß genommen – er verfehlt sein Ziel, doch im Bruchteil einer Sekunde zieht der Krieg wieder ins Straßenbild ein, offenbart seine Allgegenwart. Der alte Mann tritt, noch immer ungerührt, vom Fenster weg und gibt den Blick auf das Innere der Wohnung frei, die für ihre Bewohner in diesem Ausnahmezustand die ganze Welt verfasst.

Eine fließender Kameraschwenk gewährt Einblick in diese Welt, die gegen die Wirklichkeit des Krieges mit allen Mitteln eine Normalität aufrechtzuerhalten versucht. Die Wohnung ist bürgerlich eingerichtet, die Kamera streift über das volle Bücherregal, doch schon am Ende des Schwenks hat die Wirklichkeit die Illusion wieder eingeholt.

Die doppelt verrammelte Wohnungstür erinnert daran, dass dieses Refugium gegen das Außen verteidigt werden muss. Im deutschen Titel „Innen Leben“ klingt noch eine psychologische Dimension an, aber der belgische Regisseur legt sein Kammerspiel nicht als Psychogramm des Krieges an, es fungiert vielmehr als Studie der menschlichen Willensstärke. Die Handlung besteht aus einer Kette von Entscheidungen, von denen unter Umständen Menschenleben abhängen.

Warten auf die erlösende Nachricht

Oum Yazan, von Hiam Abbass mit bravouröser Brüskheit gespielt, ist die unumstrittene Wortführerin dieser Schicksalsgemeinschaft, die Ansagen der dreifachen Mutter sind knapp und deutlich. In der Wohnung hält sie ihre beiden pubertierenden Töchter Yara (Alissar Kaghadou) und Aliya (Ninar Halabi) und den jüngeren Sohn Yazan (Mohammad Jihad Sleik) versteckt, außerdem ihren schweigsamen Schwiegervater (Mohsen Abbas), Yaras Freund Kareem (Elias Khatter), der sich aus der Wohnung seiner Eltern geschlichen hat, und das indische Dienstmädchen Delhani (Juliette Navis), das den Haushalt am Laufen zu halten versucht. Unterschlupf gefunden haben auch Halima (Diamand Abou Abboud) und Selim (Moustapha Al Kar) mit ihrem Baby. Das Pärchen aus dem Stockwerk drüber hat seine Wohnung bei einem Bombenangriff verloren, nun warten sie auf ihre Pässe, die die Ausreise in den Libanon ermöglichen sollen. Sie alle hoffen auf eine erlösende Nachricht von Oum Yazans Mann, außer ihnen haben alle Bewohner das zerstörte Wohnhaus längst verlassen.

Oum Yazan hat sich den widrigen Lebensumständen am besten angepasst, an ihrem unumstößlichen Pragmatismus können sich auch die anderen wieder aufrichten. Sie teilt die Wasserrationen ein, vergibt Hausarbeiten und treibt alle in der Küche zusammen, wenn draußen wieder Bomben einschlagen. Die Ratio hinter jeder ihrer Entscheidungen ist das bloße Funktionieren – auch als sie mit einer moralischen Frage konfrontiert wird, die die Verantwortung eines einzelnen Menschen eigentlich übersteigt.

Die eigenen vier Wände als Echokammer existentieller Fragen

Als Selim die sichere Wohnung verlässt, um die Pässe für sich und seine Familie zu besorgen, wird er von dem Scharfschützen erwischt. Regungslos bleibt er hinter einem Schutthaufen liegen, nur seine Beine sind vom Fenster der Wohnung aus zu sehen. Delhani ist die einzige Augenzeugin, sie berichtet Oum Yazan, doch die behält die Nachricht zunächst für sich. Es sei zu gefährlich ist, die Wohnung zu verlassen – und überlässt den jungen Mann damit seinem Schicksal. Delhani kann mit diesem Wissen nicht leben.

Die eigenen vier Wände als Echokammer, in der existenzielle Fragen nachhallen: „Innen Leben“ hat einen allegorischen Kern, der die Situation in Syrien zum Ausgangspunkt allgemeinerer Überlegungen macht. Auch Liwaa Yazji berührte diesen Punkt in ihrem eindrucksvollen Dokumentarfilm „Haunted“. Darin erzählen Opfer des syrischen Bürgerkriegs, was sie in ihren zerbombten Wohnungen hält, obwohl ihr Viertel längst evakuiert ist. Zwischen Mut und Hoffnungslosigkeit schwanken ihre Geschichten, Privatbesitz wird zum Halt in einer zerfallenden Ordnung. „Vergiss die Welt draußen“, meint auch einmal Oum Yazans Schwiegervater. „Sie existiert nicht mehr.“

Ordnung um jeden Preis

Doch Oum Yazan verteidigt diese Ordnung um jeden Preis. Van Leeuw spitzt ihr moralisches Dilemma zu, indem er die klaustrophobischen Räume weiter einengt. Als Assads Schergen sich Zutritt zur Wohnung verschaffen, muss Oum Yazan Halima und ihr Baby den Eindringlingen ausliefern. Eine Mutter opfert eine andere Mutter, die ihr Baby zu schützen versucht, um die eigene Familie zu retten. „Innen Leben“ will in seiner theaterhaften Konstruktion etwas überdeutlich die Deformationen des Krieges aufzeigen. Dass diese Ambivalenzen dennoch bestehen bleiben, verdankt der Film dem stillen Spiel von Hiam Abbass und Juliette Navis in der Rolle des Dienstmädchens, das moralisch Position bezieht. Die Wahrheit sei das erste Opfer des Krieges, heißt es. Die Menschlichkeit ist nicht weniger umkämpft.

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