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Abgestiegen. Eine Obdachlose an einem US-Highway.

© Spencer Platt / AFP

"Hillbilly Elegie" von J.D. Vance: Gesellschaft am Abgrund

Das Leben der Armen: J.D. Vance erzählt in „Hillbilly-Elegie“ die Geschichte seiner weißen Unterschichtsfamilie und zeichnet ein authentisches Bild von Trumps Amerika.

Als J. D. Vance als erster Spross seiner aus Kentucky und Ohio stammenden Familie ein Studium beginnt, ein Jura-Studium, und das gleich in Yale, überlegt er erstmals genau, wie sein gesamtes Umfeld eigentlich zum amerikanischen Traum im Allgemeinen und zur US-Politik unter Barack Obama im Speziellen steht: „Präsident Obama trat exakt zu dem Zeitpunkt auf die Bühne, als sehr vielen Menschen in meiner Welt aufging, dass die amerikanische Meritokratie für sie nicht wie geschaffen ist. Wir wissen, dass es uns nicht gut geht, wir sehen es jeden Tag bei Nachrufen auf Teenager, in denen die Todesursache auffällig fehlt (zwischen den Zeilen steht: Überdosis), bei den Versagertypen, mit denen unsere Töchter ihre Zeit verschwenden. Barack Obama trifft uns genau an der Stelle unserer tiefsten Verunsicherung.“

Donald Trump ist noch nicht zum US-Präsidenten gewählt worden, als Vance diese Überlegungen zu Papier bringt und die Geschichte seines Lebens und die seiner Familie schreibt, unter dem Titel „Hillbilly-Elegie“. Trump und dessen erfolgreiche Präsidentschaftskandidatur sind dann auch nicht der Grund für die Veröffentlichung dieses Buches gewesen, sondern, so Vance in seiner Einleitung, weil er Verständnis dafür wecken wollte, „was im Leben der Armen vor sich geht, welche psychologische Wirkung diese geistige und materielle Armut auf ihre Kinder hat.“

Herkunft als Prägung

Die Armen, von denen Vance erzählt, unter denen er aufgewachsen ist, sind arme Weiße, jene titelgebenden Hillbillys. So bezeichnen sich in den USA Menschen, die zumeist Abkömmlinge schottisch-irischer Einwanderer sind und in den Appalachen leben, einer großen Region im mittleren Westen der Staaten, die sich im Süden bis Alabama und Georgia und im Norden bis Ohio erstreckt. Vances Familie stammt aus den Bergen im Südosten Kentuckys, genauer: aus der 6000-Seelen-Gemeinde Jackson, in der es „ein Gerichtsgebäude, ein paar Restaurants – fast ausschließlich Fast-Food–Ketten – und ein paar Läden und Geschäfte“ gibt und wo die Menschen in Wohnwagensiedlungen, Sozialwohnungen, Farmhäusern und Siedlerhöfen leben. Hier sei, so Vance „das Schicksal der weißen Arbeiterschicht am finstersten. Geringe soziale Mobilität, Armut, Scheidung und Drogen haben meine Heimat zu einem Brennpunkt des Elends gemacht.“

Vance Großeltern verlassen diese Gegend schnell, um wie so viele bei Armco, einer großen Stahlfabrik einige hundert Kilometer nördlich in Middletown, Ohio, ihr Glück zu machen, was sich ökonomisch durchaus als ein solches darstellt. Doch ihrer sozialen Herkunft in Kentucky, bestimmten ethnischen und charakterlichen Prägungen, entkommen sie nicht, sie bleiben mit vielen anderen „Hill People“ unter sich. Vance, der 1984 geboren wird, wächst bei seinen Großeltern auf, Mamaw und Papaw genannt, weil seine Mutter mehr und mehr an die Drogen gerät und sein leiblicher Vater ihn zur Adoption freigibt: Stiefväter geben sich in der Jugend von J.D. die Klinke in die Hand. Ihr größter Vorzug ist es dann, wenn sie ihn und seine ältere Schwester Lindsay nicht schlagen.

Sehr Amerikanisch: "Die Politik kann uns unterstützen, aber keine Regierung der Welt kann diese Probleme für uns lösen," sagt der Autor.
Sehr Amerikanisch: "Die Politik kann uns unterstützen, aber keine Regierung der Welt kann diese Probleme für uns lösen," sagt der Autor.

© Luke Fontana/Verlag

Die letzten drei Jahre vor seinem High-School-Abschluss wohnt Vance bei der Großmutter, und obwohl er sehr gute Noten hat, entscheidet er sich zunächst, zu den Marines zu gehen. Zum einen, weil er Angst vor neuen, ihm aus seinem bisherigen Leben nur zu bekannten Unstrukturiertheiten im Fall eines Studiums hat. Zum anderen aber auch, „weil er wie jeder andere Hillbilly mit ein wenig Selbstachtung“ in den Mittleren Osten ziehen will, „um Terroristen zu töten.“ Und: „Vier Jahre bei den Marines, redete ich mir ein, würden mir helfen, der Mensch zu werden, der ich sein wollte.“

Rückkehr des weißen Südstaatlers

Nun ist man nach der Wahl Donald Trumps im literarischen Betrieb verstärkt auf bestimmte Autoren aufmerksam geworden, um Trumps Wähler und ihre Lebensverhältnisse und andere Kaputtheiten auch mal in ein Bild rücken zu können. Auf Autoren wie Daniel Woodrell oder Donald Ray Pollock und ihre sogenannten Hillbilly Noirs, auf einen Südstaaten- Krimi-Autor wie James Lee Burke oder auch auf Cormac McCarthy, gerade dessen frühen Romane.

Doch der Vorzug der „Hillbilly-Elegie“ im Vergleich zu den Büchern der Genannten ist ihre Mischung aus Coming-of- Age-Story, Schicht-Psychogramm und erzählendem Sachbuch, zudem ihre Authentizität und Ungeschminktheit. Vance verzichtet auf jegliche literarische Durchdringung, trotz des Titels auch auf allzu viele klagende, gar anklagende Töne.

Versteckt in den Hügeln: «Hillbilly - Elegie» offenbart die Geschichte einer abgehängten Region.
Versteckt in den Hügeln: «Hillbilly - Elegie» offenbart die Geschichte einer abgehängten Region.

© Ullstein Buchverlag / dpa

Und er macht aus seinen Prägungen keinen Hehl. Ob er nun sagt, dass „Terminator“ einer seiner Lieblingsfilme ist. Oder ihm beigebracht wurde, im großartigsten Land der Welt zu leben, wovon er weiterhin überzeugt zu sein scheint. Oder er die Medienskepsis und den Rassismus der Menschen „aus seiner Heimat“ erwähnt und Obama als „Außerirdischen für die Menschen in Middletown“ bezeichnet, „und das hat nichts mit seiner Hautfarbe zu tun“, sondern mit seiner Bildung, Intelligenz und Distinguiertheit. Oder er gesteht: „Ich bin die Art von Patriot, über den die Leute im Acela-Korridor, dem Gebiet von Washington D.C. bis Boston nur lachen. Mir kommen die Tränen, wenn ich ’Proud to be an American’ höre, Lee Greenwoods kitschige Hymne. Als ich sechzehn war, schwor ich, möglichst jedem Kriegsveteran, dem ich begegnete, die Hand zu geben.“

Überlebenskampf und Aufstieg

Trotzdem ist es für Vance kein Widerspruch, danach zu schildern, was für Schwierigkeiten er wegen seiner Herkunft in Yale hatte, wie wenig das Networking und der Elitenzusammenhalt dort für ihn zu durchschauen waren, warum er es auch mit seiner zukünftigen Ehefrau zunächst nicht leicht hatte, da diese einen anderen, liebevolleren familiären Umgang gewohnt war als er, sie „nicht in der Schule der Hillbillys gelernt hatte, wo nur die harten Schläge zählen“.

Die „Hillbilly-Elegie“ ist eine Überlebens- und Aufsteigergeschichte, Vance arbeitet heute für den Hedgefonds-Milliardär und Silicon-Valley-Mogul Peter Thiel. Er betont, dass es trotz Wirtschaftskrise und des industriellen Strukturwandels einzelne Menschen waren, vor allem seine Großmutter, die ihn gerettet und in die Spur gebracht haben. „Die Politik kann uns unterstützen, aber keine Regierung der Welt kann diese Probleme für uns lösen.“ Der Name des neuen Präsidenten fällt in diesem Buch übrigens nicht – und doch hat man nach der Lektüre den Eindruck, das Amerika, das Donald Trump gewählt hat, ein bisschen besser verstanden zu haben.

J.D. Vance: Hillbilly-Elegie. Aus dem Amerikanischen von Gregor Hens. Ullstein Verlag, Berlin 2017. 304 S., 22 €.

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