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Spezialistin für lebensgeschichtliche Abgründe. Helga Schütz.

© Andreas Klaer

Helga Schütz' „Die Kirschendiebin“: Amor in Antirutschschuhen

Die Schriftstellerin Helga Schütz erzählt in „Die Kirschendiebin“ von einer deutsch-italienischen Dreiecksgeschichte – und wird 80 Jahre alt.

„Es weiß sowieso niemand, was Liebe ist“: Aus dieser Feststellung spricht Fatalismus. Die drei Protagonisten von Helga Schütz’ Erzählung „Die Kirschendiebin“ könnten sich jedenfalls sofort auf diesen Nenner einigen. Der auf die achtzig zugehende Thomas Falkenhain hatte sich mit seiner Gefährtin Leonore eigentlich auf einen ruhigen Lebensabend eingestellt, in seinem fast gleichaltrigen, sorgsam instand gehaltenen Häuschen in Alt Glienicke. Das kinderlose Paar kennt sich aus Leipziger Studententagen.

Der Ost-Berliner empfand die Messestadt nach dem Mauerbau 1961 als einen wohltuenden Ausweichort, in dem man „wie unter Narkose ein anderer Mensch sein“ konnte: „Hier begegnete man der Mauer nicht, man knallte zwar auch in Berlin nicht jeden Tag dagegen, aber der Beton schuf ein lästiges chronisches Unbehagen.“ Helga Schütz hat ihren Protagonisten mit zwei persönlichen Attributen ausgestattet: Thomas heißt mit Nachnamen Falkenhain, wie ihr Geburtsort in Niederschlesien, und er ist wie sie selbst Schriftsteller von Beruf, bestellt täglich unverdrossen den „Schreibacker“.

Doch eines Tages bricht Leni in „Leggings mit Seidenschleifen an den Fesseln“ aus und nimmt sich eine eigene Wohnung. Dennoch bekocht sie ihren Gefährten weiterhin täglich, reist mit ihm auf die innig geliebte Insel Hiddensee und rät ihm, ebenfalls Einsicht in seine Stasi-Akte zu nehmen: „Leni hatte Kopien machen lassen. Zehn DIN-A4-Seiten. Protokolle vom übernächsten Nachbarn und zur Erinnerung an Leipzig. Wir beide waren der Konspirative Vorgang Fortune. Du hattest sogar noch einen eigenen Namen. Solist, das war dein Name für die Zeit vor Unserer Zeit.“ Bei der Lektüre stößt Thomas auf die Spuren einer weitaus leidenschaftlicheren, doch unglücklichen Liebe: der zu Melina, der titelgebenden „Kirschendiebin“. Thomas hatte die Kommilitonin beim Kirschenpflücken in einem Garten neben dem Seminargebäude erwischt.

Kurze Sätze bis hin zum Stakkato

Helga Schütz schrieb 1976 das Drehbuch zur viel gelobten DEFA-Verfilmung von „Die Leiden des jungen Werthers“ durch ihren damaligen Mann Egon Günther. Auf Goethes Dreieckskonstellation spielt sie nun immer wieder an, was etwas erzwungen wirkt. Melina geht mit ihrem Mann, der mit Werthers Gegenspieler Albert verglichen wird, und dem gemeinsamen kleinen Sohn in den Westen und reüssiert mit einem Buch über den Wald. Der zurückgebliebene Liebhaber Thomas erfährt davon aus der Westpresse und tröstet sich mit Leni.

Schütz wählt für ihre Erzählung einen lapidaren Tonfall und überwiegend kurze Sätze bis hin zum Stakkato. Innerhalb dieser Knappheit tun sich lebensgeschichtliche Abgründe auf. Das ist ein Kennzeichen ihrer Romane wie zuletzt „Knietief im Paradies“ oder „Sepia“ von 2012, der autobiografisch grundierten Geschichte der Filmstudentin Eli, die als gelernte Gärtnerin im Milieu der Hochschule auf zweischneidige Weise als „proletarische Perle“ gilt. Thomas wird durch ein Ungetüm von Gänsepfanne an das Kriegsende und die Flucht aus dem westpreußischen Elbing erinnert. Stets geht es auch darum, mit welcher Vehemenz sich die Zonengrenze in die Biografien einbrannte.

Helga Schütz war einst selbst Stipendiatin der Villa Massimo

Für Thomas flackert durch die unverhoffte Wiederbegegnung mit Melinas Briefen ein vergessen geglaubtes Sehnsuchtsrot auf. Helga Schütz, einst selbst Stipendiatin der Villa Massimo, gönnt dem auseinandergerissenen Liebespaar der sechziger Jahre ein Wiedersehen in einem römischen Garten. Denn in den Namen Melina, abgekürzt Mela, packt sie nicht nur Anklänge an die Melancholie, sondern auch das italienische „Mela“ für Apfel – wohingegen Vokabeln wie „Collaboratora“ (statt „collaboratrice“) nicht stimmen. Die deutsche Italiensehnsucht hat eben ihre Tücken, aber das hält die Altersliebe nicht auf. Diesmal wird Melina von Thomas beim Biss in eine safttriefende Orange erwischt. Ein deutliches Signal, gefolgt von einer tragikomischen Erfüllung: „Thomas Falkenhain war in Jacke und Hose und Antirutschschuhen zu Mela ins Bett gekrochen. In ein Geisterbahnbett. An einer Station, wo die Fahrt nach kurzem Aufenthalt noch ein Stück fortgesetzt werden sollte.“

Wie Leni die Nachricht aus Rom aufnimmt, bleibt offen. Vermutlich lässt sie sich in ihrer Autonomie davon aber nicht erschüttern. Mit einer ähnlichen Haltung dürfte die Gärtnerin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin Helga Schütz ihrem 80. Geburtstag am 2. Oktober entgegensehen. Mag das bacchantische Happy End der „Kirschendiebin“ auch nicht rundum überzeugen, im Gedächtnis bleiben Sätze voller poetischer Prägnanz: „Die Erde trägt uns. Im Schlaf, im Traum. Wir sind unterwegs auf einem Rundweg um die Sonne.“

Helga Schütz: Die Kirschendiebin. Eine Erzählung. Aufbau Verlag, Berlin 2017. 170 Seiten, 18 €. – Die Autorin liest daraus am heutigen Dienstag um 20 Uhr im Literaturforum im Brecht-Haus, Chausseestr. 125.

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