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Gonzales-Album "Ivory Tower": Extraportion Ego

Entspannt nach dem Weltrekord: Wie der Popmusiker Gonzales virtuos mit den Genres spielt

Von Jörg Wunder

Jason Beck ist ein Familienmensch. Wobei Familie ein weit gefasster Begriff für den 38-jährigen Kanadier ist, der unter dem Künstlernamen Gonzales auf eine ebenso schillernde wie unstete Pop-Karriere zurückblickt. „Ich wollte, dass er Teil meiner Familie wird“, sagt er auf die Frage, warum er den Hamburger Electropop-Spezialisten Alex Ridha alias Boys Noize als Produzent seines neuen, achten Soloalbums hinzugezogen hat. „Ivory Tower“ ist ein weitgehend instrumentales Konzeptalbum über Schach und zugleich die Platte zum gleichnamigen Spielfilm: ein putziges, formal ambitioniertes Low-Budget-Werk um zwei in Sport und Liebe konkurrierende Brüder.

Vor allem ist der Film – er hat noch keinen Verleih gefunden – ein Familienstück. Gonzales gibt mit der ihm eigenen Expressivität das verkrachte Schachgenie Hershell Graves, dessen Bruder Thadeus ihm nicht nur die Frau ausgespannt, sondern auch den Ethos des Sports der Könige an die Werbeindustrie verraten hat. Thadeus wird gespielt von Tiga, das gemeinsame Love Interest von Peaches. Beide gehören zum inneren Zirkel der künstlerischen Gonzales-Familie, wie auch Mocky und Taylor Savvy, die in Nebenrollen zu sehen sind. Gonzales’ echte Mutter ist hier die jüdische Übermutter der Schachgeschwister – vom Bett aus die Fäden der auseinanderdriftenden Familie zusammenhaltend.

Der Film „Ivory Tower“, den Gonzales selbstbewusst in die Tradition amerikanischer Sportkomödien wie „Die Bären sind los“ oder „Dodgeball“ einreiht, ist letzter Baustein der umfassenden Neupositionierung eines Künstlers, der vor gut zwei Jahren in ein tiefes Motivationsloch fiel. Ein Jahrzehnt hatte der selbst ernannte „greatest Entertainer“ mit nimmermüder Energie an seiner Karriere gefeilt. War Ende der Neunziger aus dem verschlafenen Toronto nach Berlin gezogen, wo er zu Chilly Gonzales mutierte und Hauptaktivist und Klassensprecher einer Clique befreundeter Exilkanadier wurde. Merrill Nisker verpuppte sich zu Peaches, Leslie Feist verkürzte ihren Namen zu Feist, Dominic Salole nannte sich Mocky, Tiga Sontag wurde Tiga. Die Kumpeltruppe generierte kurz nach der Jahrtausendwende die aufregendste neue Musik aus Berlin. Und das ein Spektrum von feministischem Porno-Rap (Peaches) bis zu schwebenden Folk-Vignetten (Feist) abdeckende Toronto-Ratpack brachte die ins Hintertreffen geratene Ex-Mauerstadt wieder auf die Pop-Weltkarte.

Doch Gonzales gelang es nicht, den Hype in klingende Münze umzuwandeln. Während Peaches auch international eine Club-Karriere machte und Feist sogar die Hitparaden eroberte, blieb Gonzales ein Geheimtipp, dessen Platten, vertrieben vom angesagten, aber kleinen Indie-Label Kitty-Yo, nur mäßige Verkaufserfolge verzeichneten. Nicht gerade befriedigend für einen so ehrgeizigen wie von sich selbst überzeugten Musiker, der seinen Platten nur halbironisch großspurige Titel wie „Gonzales uber alles“ oder „The Entertainist“ verlieh.

Im Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken, packte er 2003 seine Koffer, um in Paris den nächsten Karriereschritt zu initiieren. Zunächst endlich mit dem lang ersehnten Erfolg: „Solo Piano“ verkaufte sich nicht nur besser als alle bisherigen Platten zusammen, sondern zeigte auch eine neue Seite des Popchamäleons. Die zerbrechlichen Klavieretüden hatten mehr mit Satie oder Grieg gemein als mit dem kraftmeiernden Electro-Funk-Rap- Groove der vergangenen Jahre.

Zudem konnte sich Gonzales in Paris als Komponist und Produzent für französische Pop-Größen wie Jane Birkin oder Philippe Katerine („in Frankreich ein Star: eine Mischung aus Helge Schneider und dem Typ von Blumfeld“) profilieren. Eine Tätigkeit, die ihn in völlig neue Dimensionen katapultierte, aber auch Rückschläge bereithielt. Nachdem seine erste Kollaboration mit Jane Birkin mehrfach platinausgezeichnet wurde, geriet der Nachfolger zum Flop. Eine Folge der kommerziellen Unberechenbarkeit des Kanadiers: „Ich bin eben nicht Pharrell Williams. Ich kann nicht voraussagen, dass bei mir neun von zehn Songs Hits werden. Das funktioniert vielleicht in einem Drittel aller Fälle.“

Entmutigend war für Gonzales der Misserfolg seines 2008 erschienenen Albums „Soft Power“, das er als Hommage an große Softrock-Bands der Siebziger – Bee Gees, Fleetwood Mac, Electric Light Orchestra – orchestriert hatte. Blöderweise glaubten viele an einen delikaten Scherz, und ironisch gebrochenen Zitatpop hatte man in den Jahren zuvor genug gehört. Problematisch für einen Künstler, der so lange mit Übertreibungen und falschen Identitäten gespielt hatte, dass man ihm eine ernsthafte Liebeserklärung an die Guilty Pleasures der Siebziger nicht mehr abnehmen mochte.

Doch die narzisstische Kränkung währte nicht allzu lange. Gonzales besann sich auf seine größten Talente: sein enormes Ego und sein technisches Können. Nicht zuletzt wegen seiner Virtuosität auf dem Klavier stieg er zum beliebten Live-Act auf. In der wiederentdeckten Konzertform der „Piano Battles“ fand er schließlich ein ideales Ausdrucksmittel: Zwei Musiker, die abwechselnd und mit allen zur Verfügung stehenden Körperteilen ihr Instrument bearbeiten und um die Gunst des Publikums buhlen. Natürlich ein Heidenspaß für alle Beteiligten, vor allem, wenn der Duellant Helge Schneider heißt wie Anfang Juli beim Traumzeit-Festival in Duisburg. Vor dessen Chuzpe verneigt sich sogar Gonzales: „Wenn ihm danach ist, lässt er die Erwartungen der Leute völlig ins Leere laufen. Als er jung war, hat er noch extremere Sachen gemacht als ich.“

Dabei können die Herausforderungen für Gonzales gar nicht extrem genug sein, Im Mai 2009 entriss er einem indischen Raga-Musiker den Dauer-Weltrekord für ein Solokonzert. Über 27 Stunden lang klimperte er sich notenfrei durch ein gut 300 Stücke umfassendes und von Gershwin bis zu Britney Spears reichendes Repertoire. „Das Publikum wurde alle drei Stunden ausgewechselt, nur zehn Freaks haben sich das von Anfang bis Ende angetan.“ Der physische Kraftakt („ein traumatisches Erlebnis, ein Schock für den Körper“) hat sich für den Künstler ausgezahlt. Die Marke „Extrem- Entertainer mit Riesen-Ego“ ist ausbaufähig. Vor allem aber scheint ihn die weltweite Resonanz aus der Lethargie gerissen zu haben.

„Ivory Tower“, auf dem sich gegenseitig überlagernde, an die Minimal Music von Steve Reich erinnernde Piano-Loops und luzide pulsierende Technobeats eine raffinierte Synthese ergeben, markiert für Gonzales eine neue Gelassenheit. Auch wenn man bei den brillanten Rap-Sequenzen von „I Am Europe“ und „The Grudge“ eine Wanderkarte durch das Metapherngebirge braucht, ist die Grundstimmung der Platte verblüffend entspannt. Man muss – selbst beim Schach – nicht immer gewinnen wollen. Umso besser, wenn die Familie da einer Meinung ist.

„Ivory Tower“ ist bei Gentle Threat/Edel erschienen.

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