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Im Klang versunken. Gary Peacock, 80, lockt zum Duett. Foto: Festival

© Festival

Gipfeltreffen des Jazz: Jeder Moment ist kostbar

Der Jüngere lockt, der Ältere lauert: Der Kontrabassist Gary Peacock und der Pianist Michael Wollny beim Enjoy Jazzfestival in Ludwigshafen.

Von Gregor Dotzauer

Treffen sich zwei Musiker. Fragt der eine: Hast du heute Nachmittag eine Stunde Zeit zum Üben? Sagt der andere: Na klar, dann geben wir doch gleich heute Abend ein Konzert. So ungefähr muss man sich die Begegnung des Bassisten Gary Peacock mit dem Pianisten Michael Wollny vorstellen. Ein Gipfeltreffen von Ungleichen, die einander nie zuvor gesehen haben. Die amerikanische Legende und das deutsche Wunderkind. Der Zenbewegte und der schwarze Romantiker. Der 80-Jährige und der 37-Jährige. Man kann gar nicht genug Gegensätze aufbieten, um sie im nächsten Moment vom Tisch zu wischen. Denn das halbe Jazzjahrhundert, das zwischen ihnen liegt, ist nichts gegen ihre Seelenverwandtschaft. Die gar nicht so geheimen Korrespondenzen gesehen zu haben, ist das Verdienst von Rainer Kern, der seinem in der Metropolregion Rhein-Neckar angesiedelten Enjoy Jazzfestival mit dem Duoabend in der Ludwigshafener BASF-Feierabendhalle einen in jeder Hinsicht einmaligen Höhepunkt bescherte.

In den musikalischen Regionen, in denen Peacock und Wollny zu Hause sind, probiert man ohnehin nicht hilflos miteinander herum. Man fremdelt höchstens eine Weile, die auch das Wissen, dass hier zwei am Werk sind, die sich aufeinander verlassen können, nur bedingt verkürzt. Wollny mag Peacocks Spiel aus Dutzenden von Alben kennen, und Peacock mag in Wollny auf Anhieb etwas entdeckt haben, das ihm aus seiner Arbeit mit Pianisten wie Marc Copland, Masabumi Kikuchi und Keith Jarrett vertraut war. Im Moment der Wahrheit stellt sich trotzdem die Frage: Wer bist du, und was fange ich mit dir an? Und so pflügen die beiden zunächst mit größtmöglicher Verve durch einen Katalog mitgebrachter Stücke, die abwechselnd von Peacock und Wollny stammen.

Der Jüngere lockt den Älteren, der Ältere lauert auf den Jüngeren, fordert ihn mit schnellen Registerwechseln heraus, dass es eine Lust ist. Und doch bewegen sie sich noch ganz in den überschaubaren Räumen von Intros, Themen, Brücken und Solos. Sie umgarnen und kommentieren einander, bevor sie ausgerechnet in einigen Standards offeneres Gelände erreichen. Peacock ist noch immer ein Wunder an Beweglichkeit, kraftvoll melodiös und entschlossen im Zugriff, bis ihm gegen Ende einmal ein Krampf die Griffhand vom Hals seines Kontrabasses reißt. Die Kollision von Holz und Saite gehört zu seinem Ton wie das unverwechselbare Vibrato, mit dem er einzelne Haltetöne markiert. Und ab in die in oberen Lagen, wo das große Flageolettgestöber wartet! Wollny, zu dessen Domänen es gehört, das neoromantische Idiom bis an seine dissonanten Grenzen auszuweiten, zeigt sich unterdessen so bluesverliebt und befeuert von gospeligem Überschwang wie selten.

Peacock, selbst ursprünglich Pianist, bevor er zum Kontrabass wechselte, hat über die Jahrzehnte eine stürmisch-wechselvolle Beziehung mit seinem Instrument gepflegt. Zwischen Liebe, Rivalität, Missachtung und Versöhnung hat er sich und ihm nichts erspart. Vielleicht hat ihn aber auch genau das auf die verschiedenen Zusammenhänge vorbereitet, in denen er sich gleich mühelos bewährte. Er fand in Albert Aylers ekstatischem Hexenkesseljazz seine Stimme. Er zelebrierte mit dem Pianisten Paul Bley die Kunst der fast bis zum Stillstand verschleppten Ballade. Und er schuf mit der Pianistin Marilyn Crispell eine Musik schroffer Abstraktion und fließender Bewegung, wie sie unter anderem das wunderbare Duoalbum „Azure“ dokumentiert.

In diese Traditionen fügt sich Michael Wollny souverän ein. Inside, innerhalb vorgegebener Akkordfortschreitungen fühlt er sich so wohl wie outside, im tastenden Rubato frei erfundener Linien. Nachdem er mit Peacock einmal die gemeinsamen Möglichkeiten ausgeschritten hat, entwickelt er aus den Tiefen Messiaen’scher Akkordschwaden ein charmant walzerndes Thema, das sich als Frank Churchills „Someday My Prince Will Come“ entpuppt, ein Song aus Walt Disneys „Schneewittchen“-Film, den Miles Davis zum Standard machte. Und es löst sich auf in ein zerrupftes Stück Stride Piano wie von Fats Waller, bevor die beiden die davonsegelnden Teile wieder zusammensetzen. Als Zugabe „Blue in Green“, eine Ballade von Miles Davis. Standing Ovations. Und zwei Musiker, die ihr eigenes Glück noch kaum begreifen.

Tags darauf sitzt Gary Peacock schon wieder im Flugzeug nach New York. Michael Wollny kehrt zusammen mit Drummer Eric Schaefer und seinem Bassisten Christian Weber zu seiner „Nachtfahrten“-Tournee quer durch Deutschland zurück, die vergangene Woche triumphal im Kammermusiksaal der Philharmonie begann. Haben sich zwei getroffen, miteinander gespielt und sehen sich womöglich niemals wieder. Jede Sekunde war es wert. Gregor Dotzauer

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