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Ingo Schulze, geboren 1962 in Dresden.

© Mike Wolff

Gespräch mit Ingo Schulze: „Überall war Öffentlichkeit“

Der Schriftsteller Ingo Schulze über den Mauerfall, verpasste Chancen – und die Sehnsucht nach der Demokratie, wie sie vor 1989 war.

Herr Schulze, Sie haben den Mauerfall vor 25 Jahren verschlafen?

Ja. Ich war damals Dramaturg am Theater in Altenburg und ausnahmsweise früh ins Bett gegangen. Als ich am nächsten Tag aufwachte, war die Mauer weg. Ich fand das natürlich wunderbar und sah dann am Morgen bereits auf dem Marktplatz von Altenburg vor dem Amt der Volkspolizei eine Schlange von Menschen, die für einen Stempel zur Ausreise in den Westen anstanden. Da wurde mir mulmig.

Warum?

Ich fürchtete, jetzt käme kaum noch jemand zu Demonstrationen. Aber so war es dann nicht. Für mich war das noch stärkere Erlebnis am 10. September ’89 die Öffnung der ungarischen Grenze. Das betraf nicht nur die Deutschen, sondern war ein internationales Signal: ein erstes Loch im Eisernen Vorhang, der die Welt geteilt hat. Und das wirkliche Entscheidende geschah doch schon am 9. Oktober, als bei der großen Montagsdemo in Leipzig und in anderen Städten die Sicherheitskräfte nicht einschritten. Ich bin selber dabei gewesen und hatte Angst. Aber als sich die Staatsmacht vor 70 000 friedlichen Bürgern zurückzog und auf eine „chinesische Lösung“ verzichtete, hatte man das Gefühl, ab sofort in einem freieren Land zu leben. Es gab eine Aufbruchsstimmung in den Betrieben, im Alltag – da lag der Mauerfall nur auf dem Weg.

Die plötzlich geöffneten Übergänge in Berlin, der enthusiastische Tanz auf der Mauer, die Durchbrüche durch Todesstreifen und Beton waren dennoch die weltweiten Symbole.

Sicher, das wirkte spektakulär, es waren tolle Szenen. Ich bedauere manchmal, dass die Leipziger Demonstrationen nur so schlechte Bilder hergaben! (lacht) Dort lag ja die eigentliche Dramatik.

Ihre Freude nach dem 9. November hielt sich in Grenzen?

Die Freude galt erst mal dem, was innerhalb der DDR geschah. Mit dem Mauerfall ist das Theater für mich uninteressant geworden. Alles andere war jetzt interessanter. Vorher boten nur die Theater und die Kirche der politischen Kritik eineBühne, nun fand die gesellschaftliche Debatte in aller Öffentlichkeit statt. Zeitungen und Fernsehen nahmen endlich ihre Aufgaben wahr, man staunte, wie interessant diese Partei-Käseblätter plötzlich waren.

Auch Sie wurden nun Journalist.

Überall war Öffentlichkeit. Ich kaufte mir sogar ein zweites Radio fürs Klo, um selbst dort nichts zu verpassen.

Und mit Freunden gründeten Sie in der thüringischen Kleinstadt Altenburg eine eigene Zeitung.

Das „Altenburger Wochenblatt“, das erschien immer donnerstags im sogenannten halbrheinischen Format ...

... etwas kleiner als der Tagesspiegel ...

... das Format, das die Betriebszeitungen hatten, die alle eingingen, und wir profitierten von den freien Kapazitäten der Druckerei. Wir schrieben und kämpften für die neue Freiheit, doch ich war auf einmal der unfreieste Mensch. Wir waren nur drei, vier Leute, ich hatte in Jena Klassische Philologie studiert, einer war Lektor, einer kam von der Leipziger Uni, meine Freundin vom Altenburger Theater hat noch mitgeholfen, und wir hatten eine Sekretärin von der „Leipziger Volkszeitung“ abgeworben. Den Vertrieb hat ein Gärtner gemacht. In der Nacht vom Sonntag zum Montag mussten wir immer zwölf Seiten – das war noch Bleisatz – zum Druck nach Leipzig bringen, in der nächsten Nacht noch mal vier Seiten, am Mittwoch wurde Korrektur gelesen, dann gleich wieder recherchieren, schreiben, umbrechen. Wir haben anderthalb Jahre durchgehalten.

Welche Auflage hatten Sie?

Anfangs 20 000 Exemplare, am Ende immerhin noch 7000, für 90 Pfennig das Stück. Altenburg hatte 45 000 Einwohner, wir belieferten die ganze Region. Aufgegeben haben wir die Zeitung, weil wir glaubten, dass wir die zwei, drei Artikel, die uns wichtig waren, auch in einem Anzeigenblatt mit viel größerer Verbreitung bringen konnten. Das machten wir eine Weile und hatten 120 000 Auflage. Aber niemand erzählt seine Geschichte in einem Anzeigenblatt. Und darum ging es: Unsere Geschichte mitzubestimmen, indem die Leute ihre Geschichte, ihre Anliegen endlich erzählen und lesen konnten. Manchmal konnten wir helfen, den einen oder anderen öffentlich zu rehabilitieren oder zu verhindern, dass irgendein Manager einen Betrieb gegen den Willen der Belegschaft übernahm. Oft haben wir auch böse danebengehauen. Wir waren ja Anfänger, auch wirtschaftlich, ich hatte zunächst keine Ahnung, was „cash“ bedeutet oder was die Mehrwertsteuer war. Trotzdem hat die Zeitung in dieser Übergangsphase gut funktioniert.

"Es war ein Schock für mich, als das Neue Forum 1990 nur 2,9 Prozent der Stimmen bekam"

Ingo Schulze, geboren 1962 in Dresden.
Ingo Schulze, geboren 1962 in Dresden.

© Mike Wolff

Als lokales, regionales Forum.

Der Schock war für mich, als das Neue Forum als Partei der Bürgerrechtler bei den Wahlen im März 1990 nur 2,9 Prozent der Stimmen bekam. Kurz vorher noch hatte niemand mit der Ost-CDU als diskreditierter Blockflöte gerechnet. Blockflöte zu spielen, das war bis dahin noch peinlicher, als richtig in der SED zu sein. Ich dachte, die Ost-SPD und das Neue Forum würden jetzt die Regierung übernehmen. Aber Kanzler Kohl hat den Wahlkampf bestimmt und die Ost-CDU an sein Herz gedrückt und signalisiert, wenn ihr diese CDU wählt, dann bekommt ihr auch mich und den Wohlstand der BRD.

Sie hätten statt der Wiedervereinigung lieber eine eigenständige DDR behalten?

An Wiedervereinigung hatten meine Freunde und ich erst mal gar nicht gedacht. Wir wollten den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Wir sind das Volk: ja. Die spätere Betonung auf „ein“ Volk führte zu einer Art Selbstaufgabe.

Gab es überhaupt die Chance der Eigenständigkeit einer demokratischen DDR?

Wenn, dann nur minimal. Aber man stelle sich nur mal vor, im Herbst 1989 wäre Lafontaine statt Kohl der Bundeskanzler gewesen. Selbst als ab Februar 1990 klar wurde, dass es auf eine Vereinigung rauslaufen würde, dachten beide Seiten noch an einen längeren Zeitraum. Und statt eines Beitritts der DDR hätte es die Alternative einer gleichberechtigteren Vereinigung gegeben.

Die Bevölkerung wollte mehrheitlich die D-Mark. Was eine Währungsunion ungleicher Partner ohne politische Einheit bedeutet hätte, sieht man heute in der EU im Verhältnis etwa zwischen Deutschland und Griechenland. Der Fehler war doch, dass man die Folgen des Wegbrechens der devisenschwachen osteuropäischen Märkte für die nicht mehr exportfähigen ostdeutschen Betriebe unterschätzt hat.

Es wurde viel mehr ignoriert, als wäre alles, was von diesem politischen System erprobt worden war, des Teufels. Selbst Kindergärten galten ja plötzlich als Fehlentwicklung. Alles musste privatisiert und ökonomisiert werden, nach westlichem Vorbild. Das war der Preis, den viele mit Arbeitslosigkeit und dem Gefühl, überflüssig zu sein, bezahlt haben. Was eine Vereinigung hätte werden können, ist leider nur ein hastiger Beitritt geworden.

Sie formulieren jetzt vor allem die enttäuschten Hoffnungen. Vieles ist auch fraglos gelungen, etwa die Rettung der schönen ostdeutschen Altstädte, die schon am Zusammenfallen waren. Das war doch auch Ihre Heimat.

Kein vernünftiger Mensch will die alten Verhältnisse zurück, deshalb waren wir ja auf den Straßen. Allerdings fehlen den vielen schönen Städten mangels Arbeitsplätzen die Bewohner oder die Mieten werden unbezahlbar.

Die „Wahnsinn!“-Rufe in der Nacht des Mauerfalls hatten neben dem Freudenrausch auch etwas Hellsichtiges?

Ja. Wann hat es das je in der Geschichte gegeben, dass sich über Nacht oder dann mit der Währungsunion alle Träume erfüllen ließen: Fernreisen, Auto, Kleidung, Bordell, was auch immer? Es war eine riesige Verführung für Menschen, die immer nur auf die Zukunft vertröstet worden waren und denen das schnelle Glück, die blühenden Landschaften, versprochen wurde. Und die Bundesrepublik als Eldorado war damals wesentlich sozialer, wirkte abgesicherter und war in vielem demokratischer als heute, weil die Wirtschaft gezähmter war, ohne neoliberale Exzesse, ohne eine so große Spreizung zwischen Arm und Reich. Statt Ostalgie begegnet mir häufig Westalgie: die Sehnsucht nach jener Bundesrepublik, nach der sich auch viele im Osten gesehnt hatten. Vor ’89!

Muss man, bei aller Kritik an Unvollkommenheiten des Rechtsstaats, heute eigentlich noch diskutieren, dass die DDR ein Unrechtsstaat war?

Ich hätte früher kein Problem gehabt, bei dem stasidurchtränkten Ding von einem Unrechtsstaat zu sprechen. Aber diese Benennung hat sich in der Bedeutung inzwischen verschoben. Durch das Wort „Unrechtsstaat“ hat sich alles, was es in der DDR gab, pauschal erledigt. Und es gab durchaus Rechte. Das Arbeits- oder Familienrecht war dem westlichen womöglich überlegen. Natürlich fehlten Meinungs-, Versammlungs-, Wahlfreiheit, unabhängige Gerichte. Darüber muss man nicht streiten. Nur wischt die Bezeichnung „Unrechtsstaat“ mit der darin mitschwingenden Selbstgerechtigkeit auch weg, was nach dem Beitritt an neuem sozialem Unrecht oder Unfug geschah. Denken Sie, wer plötzlich an Immobilien kam. Oder: Warum musste die öffentliche Daseinsfürsorge, von der Energiewirtschaft bis zum Gesundheitswesen, kommerziell privatisiert werden?

Sie leben in Berlin, sind von Prenzlauer Berg kürzlich nach Charlottenburg umgezogen. Bei der Wende waren Sie Ende zwanzig. Ist Ihre persönliche Identität noch von spezifisch ostdeutschen oder westdeutschen Koordinaten bestimmt?

Ja und nein. Das kommt auf die Zusammenhänge an. Wer die Hälfte seines Lebens in einem anderen Land und noch dazu in einem anderen System gelebt hat, ist davon geprägt. Doch wäre es fatal, die Ost- oder die Westdeutschen als Einheiten zu betrachten. Für Merkel und Gauck kann ich nichts. Und um eine Gesellschaft, in der sich alles um Wachstum dreht, auf dem falschen Weg zu sehen – dafür spielt Ost oder West wahrlich keine Rolle.

Ingo Schulze, 51, lebt in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm der Wenderoman "Adam und Evelyn" (2008) und der Essay "Unsere schönen neuen Kleider" (2012). Das Gespräch führte Peter von Becker.

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