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Englischer Kosmopolit. David Herbert Lawrence, 1922 in Santa Fé.

© Alamy Stock Photo

Geoff Dyers "Aus schierer Wut": Schreibblockade auf dem Tennisplatz

Reisebericht und autobiografischer Essay: Geoff Dyer nähert sich „Aus schierer Wut“ seinem großen Kollegen D. H. Lawrence. Man muss kein Fan von Lawrence sein, um dieses Buch zu mögen.

Man soll sich Schriftsteller nicht notwendigerweise als Menschen vorstellen, die dem Herrgott jeden Tag dafür danken, sich an ihr Notebook setzen und losschreiben zu dürfen. Schreiben heißt nämlich nicht selten, die Fluchtimpulse vor dem Schreibtisch und die Panik vor dem leeren Blatt zu bewältigen. Ein Prachtbeispiel des irritierenden Zustands, schreiben zu müssen, aber nicht zu können, liefert der englische Schriftsteller und Journalist Geoff Dyer in seinem im Original bereits 1997 erschienenen Buch „Aus schierer Wut“.

Dyer – oder die Figur, die so heißt – macht sich an eine Studie über D. H. Lawrence (1885–1930), den Autor so berühmter Romane wie „Lady Chatterleys Liebhaber“ oder „Söhne und Liebhaber“. Die Zuversicht schwindet, noch bevor die erste Zeile zu Papier gebracht ist. Allein die Vorstellung, dieses Buch nun wirklich verfassen zu müssen, wird zur Marter. Dyer zaudert und hadert, wechselt alle paar Wochen die Städte und Arbeitsplätze, nur um festzustellen, dass es mit seinen Plänen keine einzige Zeile vorangeht. Der angepeilten nüchternen Studie kommt eine Romanidee in die Quere, aber Lawrence-Schrift und Roman blockieren sich gegenseitig. Erschwerend kommt hinzu, dass Geoff Dyer ernsthafter Wissenschaft zutiefst misstraut und keinen weiteren, in Bibliotheken verstaubenden Forschungsbeitrag leisten will – an den Universitäten tummle sich ohnehin nur ein „Grüppchen von Flachwichsern“ ohne jedes literarische Gespür.

"Eigenartiges Zeug, aber nicht schlecht"

Exkursionen an die Lebensorte von D. H. Lawrence werden zu herben Enttäuschungen – der Genius loci spricht nicht zu Dyer. Auch die Romane von Lawrence möchte er gar nicht mehr wiederlesen. Ihn interessieren vielmehr die Briefe und Essays, die er ganz unsystematisch durchforstet. Nebenbei liest er Rilke-Briefe, in der Hoffnung, dass ihn diese wieder zu Lawrence zurückführen. Oxford, wo er schließlich zusammen mit seiner Freundin eine Wohnung kauft, wird zum Desaster: Er spricht nur noch von „Ödford“ („Dullford“ im englischen Original). Alle Ablenkungsstrategien, die Dyer entwickelt, seine misanthropischen, idiosynkratischen und hypochondrischen Befindlichkeiten, steile Thesen zu Land und Leuten, zu menschlichen Abgründen und der Literatur im Allgemeinen münden in einen Text. Indem das Autor-Ich namens Geoff Dyer gegen Mutlosigkeit und Verzweiflung anschreibt, gegen den Ekel und gegen das Schreiben selbst.

So entsteht das Werk, das wir vor uns haben. Es ist ein hochvergnügliches, kluges Buch, das seinen Gegenstand stetig umkreist und dabei kurioserweise weitaus anregendere Erkenntnisse zu Tage fördert, als sie womöglich ein Bataillon von Anglisten zu Tage fördern würde. „Aus schierer Wut“, schrieb D. H. Lawrence in einem Brief am 5. September 1914, „habe ich mein Buch über Thomas Hardy begonnen. Ich fürchte, es wird von allem, nur nicht von Thomas Hardy handeln – eigenartiges Zeug, aber nicht schlecht.“ Den Satz hat sich Dyer gemerkt. Aus schierer Wut beginnt auch er sein Buch über Lawrence: „Queer stuff, but not bad.“

Das Besondere an Dyers Werk ist seine Vielseitigkeit

Queer stuff – das trifft es. Dyer vollbringt das Kunststück, sich auf kein Genre festlegen zu lassen. Ist „Aus schierer Wut“ nun ein Essay? Ein Reisebericht? Eine autobiografische Selbstvergewisserung? Eine Konfession? Ein romanhaftes Krisenbuch? Eine Lawrence-Hommage oder Lawrence-Fortschreibung? Die Suada eines Hochstaplers oder die windige Strategie eines Autors, dem der Writer’s Block droht? Tatsächlich ist es nichts davon und alles in einem.

Das Besondere an Dyers bisherigem Werk ist seine Vielseitigkeit: Kein Buch gleicht dem anderen, sein Buch „Die Zone“ über Andrej Tarkowskis Film „Stalker“ nicht „Another Great Day at Sea“, seinem Bericht über die Zeit auf dem Flugzeugträger USS Bush, und keines wird so recht den Erwartungen gerecht, mit denen man zu lesen beginnt. Sein bekanntestes Werk „But Beautiful“ erzählt von Jazzmusikern, aber nicht in Form biografischer Abhandlungen, sondern in Geschichten, deren Ton und Komposition selbst an die Klänge des Jazz angelehnt sind – frei und improvisiert, cool und zuweilen pathetisch.

Auch sein Lawrence-Buch ist assoziativ und störrisch, verwegen und überspitzt. Man könnte es freilich auch postmodern nennen, wie er sich da mit einem literarischen Taschenspielertrick aus der Bredouille zu retten versucht. Allerdings würde das zu kurz greifen. Man darf sogar annehmen, dass er niemals die Absicht hatte, eine akademische Studie über D. H. Lawrence vorzulegen, dass also sein Vorhaben keineswegs gescheitert ist, sondern er ausprobieren wollte, wie es wohl wäre, das Seltsame einer Schriftstellerexistenz mit all ihren Widrigkeiten einmal auf diese Weise durchzuspielen.

Sehr britischer Humor

So mag der stets verfehlte Fluchtpunkt dieses Buches zwar D. H. Lawrence sein. Im Hintergrund aber steht turmhoch ein ganz anderer, nämlich Thomas Bernhard. Mit dem Bernhard-Ton schwingt sich Dyer ins eigene Buch ein: Kaskaden der Ablehnung und der Abneigung, enervierende Wiederholungen, in denen sich Verzweiflung und Galgenhumor verbinden, mäandernde Sätze, die immer weiter vom Eigentlichen wegführen und doch zielsicher bei den Neurosen des eigenen Lebens landen.

Mehr und mehr aber befreit sich Dyer von diesem stilistischen Vorbild; das hat wahrscheinlich zum einen damit zu tun, dass er doch viel zu eigenständig ist. Zum anderen aber auch mit einem sehr britischen Humor. Bei Dyer klingt das so: „Offen gestanden war es unmöglich, überhaupt irgendetwas zu tun. Ich hatte gedacht, nach der morgendlichen Arbeit an meinem Buch über Lawrence würde ich die Nachmittage damit verbringen, Tennis zu spielen, aber es gab keine Plätze, weshalb ich die Nachmittage, nachdem ich Morgen für Morgen damit verbracht hatte, mein Buch über Lawrence nicht zu schreiben und Rilke nicht zu lesen, damit verbrachte, nicht Tennis zu spielen.“

Lernen, mit eigenen Schwächen umzugehen

Das Schöne an diesem Prokrastinations-Genie ist, dass die Wut auf die eigene Untätigkeit und vermeintliche Unfähigkeit zahlreiche Erkenntnisse abwirft: über Schriftsteller und das Schreiben, das Leben, und – durch die Hintertür – sogar über D. H. Lawrence. Manchmal finden sich darunter auch mehr oder minder lustige Stereotype über Italiener, Engländer oder eben Akademiker – allerdings in einem ironischen Gestus, sodass die kleinen Gehässigkeiten zugleich auf den Erzähler zurückfallen.

Auch wenn man sich nicht sonderlich für D. H. Lawrence interessiert, kann man sich unbefangen an die Lektüre dieses Buches machen. Es handelt davon, wie man mit seinen eigenen Schwächen umzugehen lernt, wie man sein Leben bewältigen kann, ohne in eine Depression zu versinken. „Auf die eine oder andere Art“, heißt es am Ende, „müssen wir alle unsere Studie über D. H. Lawrence schreiben. Selbst wenn sie niemals veröffentlicht wird, selbst wenn wir sie niemals fertigstellen werden, selbst wenn alles, was wir nach Jahren über Jahren der Anstrengung in der Hand haben, eine unfertige, nicht fertigzustellende Aufzeichnung der Arten und Weisen ist, auf die wir daran gescheitert sind, unseren Ambitionen gerecht zu werden, müssen wir doch alle versuchen, mit unserem Buch über D. H. Lawrence voranzukommen.“

Geoff Dyer: Aus schierer Wut. In D. H. Lawrence’ Schatten. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. DuMont, Köln 2016. 304 S., 19,99 €.

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