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Die deutsche Publizistin Carolin Emcke während ihrer Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche.

© REUTERS

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Menschenrechte dürfen niemandem abgesprochen werden

Die Publizistin Carolin Emcke spricht in ihrer Dankesrede zum Friedenspreis in der Frankfurter Paulskirche über Zugehörigkeit, ihre Homosexualität und das Engagement gegen Ausgrenzung von sogenannten Minderheiten.

Rituale haben etwas Beruhigendes und Bestärkendes. Ob gemeinsames Krimischauen, Skatspielen oder Beten – was passieren wird, steht im Wesentlichen fest, trotzdem entfaltet die jeweilige Ausführung ihre ganz eigene Wirkung und vertieft die Bande der Anwesenden.
In der Familie von Carolin Emcke gab es das Ritual des kollektiven Anschauens der Fernsehübertragung der Friedenspreisrede. Die Eltern im Sessel, die Kinder auf dem Boden davor. Seit 1982 hat sich die diesjährige Gewinnerin des 1950 erstmals verliehenen Preises die traditionell zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse stattfindende Zeremonie in der Paulskirche angesehen, jedes Jahr. Seit der Verleihung an David Grossman 2010 ist sie live dabei, wie sie zu Beginn ihrer Dankesrede erzählt.
Die 49-jährige Berliner Publizistin und Philosophin Carolin Emcke weiß also gut um die Bedeutung dieser Feierstunde am Versammlungsort des ersten deutschen Parlamentes. Die Fahnen der Bundes und der Länder schmücken das helle Rund der Kirche, neben Bundespräsident Joachim Gauck sind unter anderem Heiko Maas, Monika Grütters, Michel Friedmann und Claudia Roth im Publikum. Es ist ein freiheitlich-demokratisches Selbstvergewisserungsritual. Und Carolin Emcke schreitet in ihrer klugen, kämpferischen Rede eben diesen Resonanzraum aus.

Laudatorin Seyla Benhabib würdigt Carollin Emckes "analytische Empathie"

Nach der Laudatio der in Istanbul geborenen und in Yale lehrenden Philosophin Seyla Benhabib, die die Erzählkunst und „analytische Empathie“ von Emckes Texten aus Kriegs- und Krisengebieten preist, geht die Preisträgerin zunächst auf ihre Perspektive ein. Viele ihrer acht Vorgängerinnen und 65 Vorgänger hätten bei ihrer Rede nicht nur als Individuen, sondern „oft auch als Angehörige einer bedrängten Gruppe, eines marginalisierten Glaubens, einer versehrten Gegend gesprochen“. Sie schaut dabei auf den in der ersten Reihe sitzenden chinesischen Autor und Dissidenten Liao Yiwu, Friedenspreisträger von 2012 - und meint viele weitere, etwa den Vorjahrespreisträger Navid Kermani.
Ausgehend vom hebräischen Wort für angehören, „shayach“, reflektiert sie die über das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft sowie die Kontextabhängigkeit einer Gruppenzugehörigkeit. „Für manche wird das eigene Judentum besonders spürbar, wenn sie die Süße von Äpfeln mit Honig an Rosh ha’shana schmecken. Für andere dagegen, wenn sie in der Paulskirche sitzen und einer Rede zuhören müssen, in der das furchtbare Leid der eigenen Angehörigen von einem Menschheitsverbrechen, an das bis heute zu erinnern ist, zu einer bloßen ,Moralkeule' verstümmelt wird.“

Ein später Seitenhieb auf Walsers "Moralkeulen"-Rede

Dem Seitenhieb auf Martin Walsers Paulskirchenrede aus dem Jahr 1998 folgt Applaus, an den Emcke anschließt mit dem nicht im Manuskript stehenden Satz: „Ich kann hier nicht stehen, ohne an diesen nicht nur für Ignatz Bubis unglaublich schmerzhaften Moment in der Geschichte des Preises zu erinnern.“ Stets hat Emcke betont, wie zentral das Nachdenken über die Schoah für sie ist. Und man spürt in diesem Moment, in dem sie mit festem Blick ins Auditorium schaut, dass der späte Einspruch gegen Walser ihr eine Herzensnotwendigkeit ist.
Die Gruppe, der sie selber angehört und aus deren Perspektive sie „nicht nur, aber eben auch“ an diesem Mittag spricht, ist die einer homosexuellen Frau. Emcke erinnert sich – wie in ihrem Buch „Wie wir begehren“ – daran, wie sie sich das erste Mal in eine Frau verliebte. Sie sei damals nicht davon ausgegangen, dass mit dieser privaten Sache gleich eine Zugehörigkeit oder Identität verbunden sei. „Es ist eine ausgesprochen merkwürdige Erfahrung, dass etwas so Persönliches für andere so wichtig sein soll, dass sie für sich beanspruchen, in unsere Leben einzugreifen und uns Rechte oder Würde absprechen wollen. Als sei die Art wie wir lieben für andere bedeutungsvoller als für uns selbst, als gehörten unsere Liebe und unsere Körper nicht uns, sondern denen, die sie ablehnen oder pathologisieren.“

Wer Minderheitenrechte verletzt, greift die offene Gesellschaft als Ganzes an

Diese Ablehnungserfahrung machen in verschieden starker Ausprägung die meisten Angehörigen von Minderheiten. Was zu einem der Kernpunkte von Emckes Rede führt, der die Erkenntnisse ihres gerade veröffentlichten Buches „Gegen den Hass“ aufgreift: Wenn Angehörige religiöser, sexueller oder ethnischer Minderheiten nur noch als undifferenzierte Kollektive gesehen werden und sich mit Ausgrenzung und Gewalt konfrontiert sehen, dann trifft das nicht nur sie selbst, „sondern alle, die in einer offenen demokratischen Gesellschaft leben wollen“. Menschenrechte sind universell. Sie gelten ohne Voraussetzung und wer sie Einzelnen abspricht, greift ein Grundprinzip der demokratischen Welt an. In Zeiten, in denen Geflüchtete fast nur noch als Masse in den Blick genommen werden und die sozialen Netzwerke vor Beleidigungen strotzen, müssen solche für selbstverständlich gehaltenen Übereinkünfte wieder in Erinnerung gebracht werden. Emcke tut das in Frankfurt auf eindringliche Weise.

Ihr abschließender Rat: „Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen“. Sprechend und handelnd bestehe die Möglichkeit, einzugreifen in die sich zunehmend verrohende Welt. Eine Ermutigung, der man ein tatkräftiges Echo wünscht.

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