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Filmfestival Cannes: Liebe gegen den Tod

Generation 70 plus in Cannes: Das großartige Kammerspiel "Amour" von Michael Haneke ist der bislang beste Wettbewerbsfilm - Alain Resnais und Abbas Kiarostami fallen dagegen mit ihren neuen Filmen ab. .

Die kurze Szene ist bereits historisch, und das gleich doppelt. Am Sonntagabend ersäuft die montée des marches, die rituelle Besteigung des Festivalpalasts, im Regen – und das zur Vorführung jenes Wettbewerbsfilms, der die gesamte Konkurrenz weit hinter sich lässt: Michael Hanekes „Amour“. Würdevoll und gemächlich aber, wie sich das gehört, schreiten der Regisseur (70) und seine Hauptdarsteller Jean-Louis Trintignant (81) und Emmanuelle Riva (85) treppauf, gefolgt von einer vergleichsweise jugendlichen Isabelle Huppert in schulterfreier blassbrauner Robe.

Wie gut es da doch die schreibenden Akteure haben! Hübsch im Trockenen der Pressezone nebenan beobachten sie die auf Flatscreens live übertragene Wasserschlacht und bibbern mit den Stars im Geiste mit. Endlich trifft die Gruppe, deren Film man schon frühmorgens bewundert hat, zur Gala-Premiere unterm Dach des Foyers ein. Und als seien sie nun unbeobachtet, brechen Regisseur und Schauspieler hinreißend in Gelächter aus und schütteln sich wie patschnass gewordene Hunde. Sintflut, na und?

Nein, Cannes ist nicht für solch’ ein Wetter gemacht, nicht dieses französische Miami, in dem die aus allen Landesteilen zugezogenen Rentner auch winters die Nase in die Sonne halten. Apropos Seniorenluxusresidenz: Diesmal regieren die Alten auch auf und hinter der Leinwand – am beeindruckendsten Michael Haneke mit seinem Drama um ein Musikprofessorenpaar, das auf zutiefst anrührende Weise gegen den näher rückenden Tod zusammenhält. „Amour“ ist ein für Haneke-Verhältnisse verblüffend milder Film, doch altersmild ist sein Regisseur und Drehbuchautor noch lange nicht.

Georges und Anne, betörend fein von den Schauspiellegenden Trintignant und Riva verkörpert, leben in einer kultiviert verwohnten Altbauwohnung in Paris. Am Morgen nach dem Konzert eines ihrer ehemaligen Schüler hat Anne einen leichten Schlaganfall, kaum mehr als eine Absence. Aber sie muss operiert werden und ist anschließend halbseitig gelähmt. Ihrem Mann fordert sie das Versprechen ab, sie nie wieder ins Krankenhaus zu schicken, und er nimmt das wörtlich, auch nach Annes zweitem, schwereren Schlaganfall. „Wie soll das weitergehen?“, fragt die ungeduldige Tochter Eva (Isabelle Huppert), die auf Betreuung in einer Klinik drängt. „Es geht so weiter wie bisher“, antwortet Georges, „bis es irgendwann zu Ende ist.“ Was in anderer Handschrift auch eine verfilmte Krankenakte hätte werden können, und Haneke lässt kein Detail der Pflege aus, entpuppt sich als großartig komponiertes Kammerspiel über den Abschied, den jeder eines Tages vom Leben nehmen muss.

Diskret und präzise beobachtet die Kamera die Nähe dieser füreinander so aufmerksamen alten Leute – und als Anne in ihrem Dauerdämmerzustand diese Nähe nicht mehr aufrechterhalten kann, führt Georges sie unermüdlich fort, im Vorlesen, Erzählen und Vorsingen, „bis es irgendwann zu Ende ist“. Den Weg dorthin inszeniert Haneke mit meisterlicher Ruhe, unerbittlich sanft. Wer diesen absolut unsentimentalen Film trockenen Auges übersteht, ist wahrscheinlich noch sehr, sehr jung - oder irgendwo in der entschieden diesseitigen Mitte des Lebens, von Geburt und Tod gefühlt gleich entfernt.

Nach dem alles überstrahlenden "Amour" haben es selbst andere (Alt-)Meister schwer. Erst recht, wenn sie sich in ähnlichen thematischen Gefilden bewegen. Abbas Kiarostamis "Like Someone in Love" führt in die Welt des emeritierten japanischen Soziologieprofessors Takashi Watanabe (Tadashi Okuno). Auch seine Wohnung in der Nähe von Tokio ist mit Büchern und Bildern vollgestellt. Seit dem Tod seiner Frau lebt er allein, und damit er sich nicht allzu einsam fühlt, führt ihm einer seiner früheren Studenten, längst selber ein älterer Mann, dann und wann Studentinnen zu, die sich mit Sex etwas hinzuverdienen.

Kalte Liebeskaufvertragsverhältnisse aber, wie sie Ulrich Seidl in seiner in Cannes viel diskutierten Prostitutionsstudie "Paradies: Liebe" untersucht, hat der alte Watanabe offenbar nicht im Sinn. Lieber kocht er für die zauberhafte Akiko (Rin Takanashi) Suppe, lässt das übermüdete Mädchen in seinem Bett einschlafen und hat überhaupt Freude daran, für ihren Opa gehalten zu werden – auch von Akikos anderweitig höchst eifersüchtigem Freund Noriaki (Ryo Kase). „Ich bin ihr Großvater genauso wie deiner“, sagt er ihm einmal im obergemütlichen Plauderton. Noriaki gefällt das: Schließlich will der junge Mann Akiko dringlichst heiraten, um sie vor der gefährlichen Welt da draußen wegzusperren.

So recht funktionieren will das dünne Tarnungsgespinst dann doch nicht – genauso wenig wie der ganze Film. Warum Japan, wurde der 71-jährige Iraner Kiarostami zu Recht gefragt. „Damit man mir nicht vorwirft, ich hätte einen westlichen Film gedreht“, konterte der Regisseur knapp, der neuerdings auf Weltreisen geht. Europäisch war zuletzt sein Film „Die Liebesfälscher“ (2009) mit Juliette Binoche, ein so zauberhaftes wie federleichtes Rätselstück. „Like Someone in Love“ dagegen verlässt sich vor allem auf die brillante Kamera von Katsumi Yanagijima und den Reiz seiner Hauptdarstellerin. Doch statt seinem Gedankenbasismaterial ein wenig Substanz hinzuzufügen, hat Kiarostami das eigene Drehbuch irgendwann offenbar so in die Ecke gepfeffert, wie man einen Stein durchs Fenster schmeißt.

Ganz im Gegenteil an einer Überdosis Raffinesse leidet „Vous n’avez encore rien vu“ von Alain Resnais, der darin mehr als ein Dutzend seiner Lieblingsschauspieler versammelt. Sie alle treffen sich anlässlich des Todes eines Theaterautors, in dessen „Eurydike“-Inszenierungen sie einst mitspielten – und sehen nun der gefilmten „Eurydike“-Aufführung einer Off-Theatertruppe zu, während der sie ihre alten Rollen zunehmend theatralisch zu deklamieren beginnen.

So hübsch dieses Spiel mit dem Spiel im Spiel des großen 89-jährigen Alain Resnais anhebt: Spätestens wenn ältere Akteure – und sei es bloß texterinnerungshalber – junge Liebende geben müssen, wirkt das Experiment schlicht outriert. Erst recht nach dem Blick auf Hanekes schönstes, ältestes Liebespaar der Welt.

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