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Die Schöne, das Biest: Sandra Hüller und Peter Simonischek im Zottelkostüm.

© Komplizen Film

Film "Toni Erdmann" im Kino: Vaters Furzkissen und die Karriere der Tochter

Die Schöne und das Biest: Maren Ades Tragikomödie „Toni Erdmann“ um eine Vater-Tochter-Beziehung ist der Film des Jahres.

Irgendwann läuft sie hinter ihm her, auf die Straßen von Bukarest, in einen kleinen Park. Sie trägt einen dünnen Morgenmantel und nichts darunter und sie ruft „Papa“ und wirft sich ihm an den Hals. Dummerweise steckt Winfried Conradi alias Toni Erdmann alias Peter Simonischek gerade in einem Kukeri, einem Zotteltier-Folklorekostüm aus Bulgarien, und Iris alias Sandra Hüller, seine zarte, blonde Unternehmensberater-Tochter, verschwindet fast im Fell dieses haarigen Monsters.

Man denkt an die Schöne und das Biest, an Hitchcock – wegen des zur „Vertigo“Schnecke gedrehten Blondhaars –, vielleicht auch an den eigenen Vater oder sonst einen Menschen, bei dem man sich einmal aufgehoben gefühlt hat. Ein paar Passanten gucken irritiert auf das Zottelwesen, weiter nichts. Kein Soundtrack, kein extra Schauwert – nur dieser kurze, in Verkehrslärm getauchte Moment, der einen glücklich macht wie selten im Kino.

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In der nächsten Szene wird Toni Erdmann die Hotelportiersfrau bitten, ihm beim Abziehen der turmhohen, mit bunten Troddeln geschmückten Kopfmaske zu helfen. Ja, es ist tatsächlich der Vater, der in dem Kukeri steckt. Und in der Szene zuvor hatte Ines ihre Kollegen zum Brunch in ihr Appartement geladen, der Chef wollte es so, wegen des Teamgeists. Sie hatte sich in ein neues Kleid und in ebenso unbequeme High Heels gezwängt, aber dann plötzlich innegehalten und alles ausgezogen. Nacktparty, verkündet sie und öffnet ihrem Chef nackt die Tür. Es ist wohl tatsächlich etwas geschehen mit ihr, seit der Vater in Bukarest auftauchte, etwas, das diese toughe Businessfrau dazu bringt, unmögliche Dinge zu tun.

In Cannes leer ausgegangen, aber dem Film kann das nichts anhaben

Eine irre Begegnung, eine unglaubliche Geschichte. Wer hat nicht inzwischen davon gehört: Wie die Berliner Regisseurin Maren Ade das Filmfest von Cannes mit „Toni Erdmann“ eroberte, wie ihr alle Herzen zuflogen, Ovationen, Zeitungs-Titel, Filmeinkäufer. Wie die 39-jährige zur Palmen-Favoritin wurde und doch leer ausging, was sie gelassen zur Kenntnis nahm, um Ferien zu machen mit ihrem Filmemacher-Ehemann Ulrich Köhler und den Söhnen, der jüngere gerade ein halbes Jahr alt. Was kann eine Cannes-Jury ihm schon anhaben, diesem unglaublichen Film.

Sandra Hüller singt einen Whitney-Houston-Song, einer der bewegendsten Momente von "Toni Erdmann".
Sandra Hüller singt einen Whitney-Houston-Song, einer der bewegendsten Momente von "Toni Erdmann".

© dpa

Zu gerne wüsste man, wie Maren Ade ihn gepitcht hat, während sie noch in der Drehbuch- und Finanzierungsphase steckte. Die Story von einem Alt-68er, der das Leben seiner Karrieretochter mit einem Furzkissen aufmischt? Eine deutschrumänische Tragikomödie mit Scherzartikeln und Kapitalismuskritik an Consultingfirmen, die Osteuropa totsanieren? Eine autobiografische Studie, die den Generationskonflikt anhand einer Käsereibe abhandelt? Muss jedenfalls komisch gewesen sein. Der Ton, den Ades Film anschlägt, ist neu im deutschen Kino, eine irre Mischung aus Wehmut und Witz.

Die Story: Der Musiklehrer Winfried, der sein Provinz-Dasein gerne mit Plastikgebiss, Billigperücke und Fake-Identitäten aufheitert (wie Maren Ades eigener Vater), macht sich Sorgen um seine supererfolgreiche Tochter. Beim Heimatbesuch hängt sie nur am Smartphone, sie ist ein Tier, sagt ihr Chef, sie steht mächtig unter Druck. Glücklich ist sie jedenfalls nicht.

Wunderbar, wie Simonischek und Hüller das Theater des Lebens einfangen

Also sitzt Winfried bald in der Lobby ihrer Unternehmensberater-Firma in Bukarest, Überraschungsbesuch! Sie nimmt ihn mit zu Empfängen und Businessdrinks, es ist ein Desaster. Papa ist peinlich, und wie. Ausgerechnet ihrem Topkunden (Michael Wittenborn) erzählt er, er verhandele mit Ines gerade um die Bezahlung für die von ihm engagierte Ersatztochter. Ines sei ja nie da, und die andere schneide auch Fußnägel. Die Käsereibe als Geburtstagsgeschenk ist ebenfalls ein Flop, seine Fragen erst recht. „Spaß, Glück, Leben, kann man das ein bisschen ausdünnen?“, kontert sie. Winfried reist ab – und kehrt in Gestalt von Toni Erdmann wieder, als Coach von Ion Tiriac, wie er behauptet, mit besagtem Klappergebiss, Zottelperücke und Stretch-Limo. Und Ines fängt an, das Spiel mitzuspielen, halb genervt, halb amüsiert.

Man kann sich kaum sattsehen daran. Wie die Theaterstars Peter Simonischek und Sandra Hüller das Theater des Lebens einfangen. Wie sie Figuren verkörpern, die eine Rolle spielen, spielen wollen, unbedingt. Ines die Business-Rolle, trotz schmerzhaft gequetschtem Zehennagel (!) und Restnervosität. Ständig streicht sie sich das Haar hinters Ohr oder fasst sich ins Gesicht, als überprüfe sie, ob da jemand ist. Und er die Toni-Erdmann-Rolle, die der ungelenke Winfried nie vollständig ausfüllt, so dass immer noch ein wenig vom Burgtheater-Schauspieler Peter Simonischek aufblitzt.

Marx trifft McKinsey, das passt überhaupt nicht zusammen

Das Leben, verrät dieser Film, ist nicht geschmackvoll. Es ist nicht auszuhalten, wenn Winfrieds Hund stirbt und er sich neben das sterbende Tier legt. Es ist blöd, wenn Ines mit dem Coach via Skype ihre Performance beim letzten Meeting bespricht. Es ist banal, wenn sie den Schlaf von Jahren nachholt, im Club, auf Dienstfahrten, an der Seite von Toni Erdmann, der auf sie aufpasst. Es ist peinlich, wenn die Eltern mit ihren verblassten linken Idealen auf ihren tüchtigen, pragmatischen Nachwuchs treffen. Marx und McKinsey, Gemeinsinn und Globalisierung, da passt nichts zusammen. Schon gar nicht, wenn aus dem Hochhausfenster die Baracken der Roma in den Blick geraten, tief unten, auf Straßenniveau.

Toni Erdmann alias Winfried alias Peter Simonischek trägt Gebiss und Zottelperücke und mischt die Businesswelt von Bukarest auf. Mitte: Lucy Russell als Steph.
Toni Erdmann alias Winfried alias Peter Simonischek trägt Gebiss und Zottelperücke und mischt die Businesswelt von Bukarest auf. Mitte: Lucy Russell als Steph.

© dpa

Maren Ade erzählt episch und elliptisch zugleich, nimmt sich Zeit in ihrem 164-Minuten-Film, um dann wieder ganze Welt- und Lebenswahrheiten in einen Augenblick zu verdichten. Oder in einen Dialogsatz: „Ich bin keine Feministin, sonst würde ich es mit Typen wie dir gar nicht aushalten“, sagt Ines zum Boss. Oder beim Ortstermin mit dem windigen Ölfirmenchef auf dem Land, als Toni Erdmann mal austreten muss und beim Bauern nebenan auf eine Klobrille mit TigerSchonbezug stößt. „Verlieren Sie Ihren Humor nicht“: Der gutgemeinte Satz ist der blanke Hohn. Die armen Leute müssen bald der Modernisierung weichen.

Das Leben ist ein Fremdkörper, ein Witz, ein Wahnsinn

Das Leben ist vor allem unangemessen. Ein Fremdkörper wie ein Scherzgebiss. Was es im Kern ausmacht, ist das Uneindeutige, das, was sich nicht kalkulieren und nicht begreifen lässt. Alle drei Filme, die Maren Ade seit 2003 gedreht hat, handeln von diesem unerklärlichen Rest und wie wir Menschen uns damit plagen. Für alle drei nahm Ade sich Zeit und legte eine Punktlandung hin. Einfach indem sie ihren Figuren mit großer Empathie beim Nicht-Zurechtkommen zusah: der linkischen Junglehrerin in „Der Wald vor lauter Bäumen“ genauso wie dem sich entfremdenden Paar in „Alle anderen“.

Eva Löbau als Lehrerin, Birgit Minichmayr und Lars Eidinger im quälenden Beziehungsclinch, jetzt Sandra Hüller und Peter Simonischek: Maren Ades Kino ist immer Schauspielerkino, Körperkino, präzise, behutsam, eingefangen von einer vor Aufmerksamkeit immer leicht vibrierenden Kamera (Patrick Orth). Nur dass die als Kontrollfreak berüchtigte Filmemacherin diesmal eine noch größere Risikofreude an den Tag legt, eine Leichtigkeit und Offenheit, die ihresgleichen sucht im deutschen Gegenwartsfilm.

Maren Ade, Regisseurin von "Toni Erdmann", wurde in Cannes gefeiert.
Maren Ade, Regisseurin von "Toni Erdmann", wurde in Cannes gefeiert.

© dpa

Es sind die Frauen, die die hiesige, gern auf Nummer Sicher gehende Branche aufzumischen beginnen, mit radikalen Stoffen und Wahnsinns-Heldinnen. Letztes Jahr mit der von Maren Ades Berliner Firma Komplizen Film produzierten Panikattacken-Dramödie „Hedi Schneider steckt fest“ in der Regie von Sonja Heiss, dieses Jahr bereits mit Nicolette Krebitz’ Radikalromanze „Wild“ (Frau liebt Wolf) und Anne Zohra Berracheds Berlinale-Beitrag „24 Wochen“ (das zutiefst verstörende Abtreibungsdrama mit Julia Jentsch startet im September). Endlich Risikospiel, endlich Leben in der Bude!

Und dann singt Sandra Hüller sich die Seele aus dem Leib

Als ausführende Produzentin von „Toni Erdmann“ firmiert übrigens die Rumänin Ada Solomon, die mit ihren kämpferischen, kommerzkritischen Dankenworten zum Goldenen Bären für „Mutter und Sohn“ 2013 von sich reden machte. Rumänien, Griechenland, die kleinen, starken Filmnationen Österreich oder Dänemark: Da tut sich was in ganz Europa.

Bei einem Spontanbesuch in der gehobenen Bukarester Gesellschaft geben Ines und Toni den Whitney-Houston-Song „The Greatest Love Of All“ zum Besten. Er handelt von Kindern und was man ihnen für die Zukunft mitgibt, von Vorbildern und dass man sich nur auf sich selbst verlassen kann. Peter Simonischek drückt die Tasten der Heimorgel, Sandra Hüller singt sich die Seele aus dem Leib. Da ist sie mit Händen zu greifen, die Freiheit, die Ines sich nahm, und die Einsamkeit, die darin steckt.

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