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It's a deal. Händler an der New Yorker Börse.

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Essay zur Kapitalismuskritik: Die Litanei vom Schicksal

Noch nie blühte die Kapitalismuskritik so bunt wie heute – von Frank Schirrmachers Kampfschrift „Ego“ bis zu Wolfgang Streecks Krisenstudie „Gekaufte Zeit“. Über die Konjunktur einer intellektuellen Disziplin zwischen Radikalität und politischer Zahnlosigkeit

Von Gregor Dotzauer

Wenn es nach der schieren Zahl der Verwünschungen und Grabgesänge ginge, dann wäre es morgen, spätestens übermorgen, mit dem Kapitalismus vorbei. Die Stimmung ist anscheinend so umstürzlerisch wie nie – auch ohne die Aktivisten von Attac und Occupy. Denn vielleicht braucht es nicht einmal mehr ein revolutionäres Subjekt, weil er von alleine kollabiert. Nach Jahrhunderten sozialer Kämpfe und Jahrzehnten spätkapitalistischen Darbens sind nun offenbar fünf, sechs Jahre verschärfter internationaler Finanz- und Schuldenkrise drauf und dran, dem System den Rest zu geben.

Dabei ist nicht einmal ausgemacht, worin dieser einmal als moribund und dann wieder als beharrungsstur beschriebene Kapitalismus überhaupt besteht. Handelt es sich um eine Wirtschaftsform oder eine Mentalität, eine anthropologische Verfasstheit oder eine soziale Konstruktion? Wo berühren sich seine europäisch-demokratischen Ausprägungen mit den autoritären in China? Und geht es nur mit protestantischer Ethik oder auch mit konfuzianischer Disziplin?

Der Singular löst sich schnell auf in Pluralitäten, und es ist zweifelhaft, ob sie Phänotypen eines einzigen monströsen Genotyps sind. Es herrscht eine überwältigende Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten. Der finsterste realwirtschaftliche Raubtierkapitalismus koexistiert mit computergestütztem Hochgeschwindigkeitstrading und die Knochen schindende Ausbeutung bettelarmer Arbeitskräfte mit der konsumistischen Besiedelung grundversorgter Seelen.

Entsprechend divers sind die kritischen Zugänge. Es könnte in diesem Frühjahr keine größeren Gegensätze geben als den zwischen Frank Schirrmachers Kampfschrift „Ego – Das Spiel des Lebens“ (Blessing), die Nummer eins der deutschen Sachbuch-Bestseller, und Wolfgang Streecks Adorno-Vorlesungen „Gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ (Suhrkamp), die für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert sind. Schirrmacher beschwört in apokalyptischen Worten den Abschied des Menschen von sich selbst in der digitalen Ökonomie des Wissens und sieht einen roboterhaften homo oeconomicus entstehen. Wolfgang Streeck wiederum, Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, untersucht mit eiserner sozialwissenschaftlicher Empirie, wie sich Europas Demokratien in den letzten 40 Jahren immer wieder Zeit durch die Abstraktion Geld erkauft haben: die Stundung ihres realen Zusammenbruchs.

Beide Bücher widersprechen einander nicht. Sie unterscheiden sich aber in einem fundamentalen Punkt: Schirrmacher drückt sich um eine politische Einbettung seiner Thesen. Dagegen gibt Streeck freimütig über seine Verankerung in Traditionen der Frankfurter Schule Auskunft, die der Annahme „eines prinzipiellen Spannungsverhältnisses zwischen dem sozialen Leben und einer von Imperativen der Kapitalverwertung und Kapitalvermehrung beherrschten Ökonomie“ folgen: „Niemand kann nach dem, was seit 2008 geschehen ist, Politik und politische Institutionen verstehen, ohne sie in enge Beziehung zu Märkten und wirtschaftlichen Interessen zu setzen. Ob und inwieweit das ,marxistisch’ ist oder ,neomarxistisch’, ist eine Frage, die mir ganz und gar uninteressant erscheint.“ So zeichnet Streeck den Weg vom Steuerstaat zum Schuldenstaat und von da aus zum Konsolidierungsstaat in neoliberalen Zeiten nach.

Eine interessantere Frage ist es, ob sich unpolitische Kapitalismuskritik überhaupt denken lässt. Ist sie ohne das Problem der Verteilungsgerechtigkeit nicht ein schlechter Witz? Ihre Schwundstufen, die Klage über die Beschleunigungsgesellschaft, die Burnoutgesellschaft oder die Müdigkeitsgesellschaft, der der Karlsruher Philosoph Byung-Chul Han mit leise antidemokratischen Anwandlungen ein erfolgreiches Büchlein gewidmet hat, mögen dies nahelegen. Auch ist Schirrmachers hysterischer Populismus sicher mitschuldig daran, dass seine keineswegs einfältige Argumentation in Talkshows mitunter auf Lebenshilfeniveau reduziert wird: Nun seid mal nicht so egoistisch! Doch sobald man den Fokus erweitert, geraten die politökonomischen Kontexte wieder in den Blick.

Die Angstlust, mit der man auf den Kapitalismus als die Generalmetapher für alle Zumutungen dieser Zeit starrt, hat indes auch die Hoffnung im Sinn, dass die Dinge nicht so schlimm kommen, wie sie kommen sollen: dass Europa also nur an den Rändern bröckelt oder der Klimawandel glimpflich verläuft. Dieser psychohygienischen Funktion kommt jede kapitalismuskritische Farbe recht, und auch wenn aus ihr noch kein politisches Handeln erwächst, steht sie mit Stéphane Hessels zum Herz-Jesu-Sozialismus tendierender Schrift „Empört euch!“ nicht dümmer da als mit Joseph Vogls kulturhermeneutischer Analyse „Das Gespenst des Kapitals“ oder David Graebers anarchistischer Theorie der „Schulden“.

Gier ist nicht der Geist des Kapitalismus

It's a deal. Händler an der New Yorker Börse.
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Jede Auseinandersetzung ist besser als keine Auseinandersetzung, und man sollte sich vergegenwärtigen, dass auch halb vergessene Epochenbücher wie Herbert Marcuses Studie „Der eindimensionale Mensch“ schon aus einer kruden Mischung von intellektueller Schärfe, grenzenloser Übertreibung und agitatorischer Wucht bestanden. Eine funktionalistische Betrachtungsweisen und die Vorstellung, man könne der unheimlichen Matrix mit einem individuellen Schritt entrinnen, leben in solchen Theorien immer zugleich. Interessanterweise empfiehlt J.M. Coetzee in „Here and Now“, seinem Briefwechsel mit Paul Auster, Platons Höhlengleichnis als die Urgeschichte einer Rückkehr aus den Illusionen der Finanzwirtschaft in die Wirklichkeit. Die gefesselten Höhlenbewohner, die ihr Leben lang nichts als flackernde Zahlenreihen gesehen haben, müssten sich nur abwenden und wären frei.

Würden sich die westlichen Krisengesellschaften dann nicht mehr Max Webers Evergreen „von der schicksalvollsten Macht unseres modernen Lebens: dem Kapitalismus“ vorsingen? In seiner superlativischen Gestalt zielt diese, seine religionssoziologischen Aufsätze aus dem Jahr 1920 einleitende und schon fast zu Tode zitierte Formulierung auf eine durch Mark und Bein gehende Totalität, lange bevor sie als totalitär gebrandmarkt wurde. Sie klingt verdächtig nach dem „Verblendungszusammenhang“, den Theodor W. Adorno und Max Horkheimer 1947 in der „Dialektik der Aufklärung“ konstatierten, erst recht, wenn Weber feststellt, dass „der heutige, zur Herrschaft im Wirtschaftsleben gelangte Kapitalismus sich im Wege der ökonomischen Auslese die Wirtschaftssubjekte – Unternehmer und Arbeiter – schafft, deren er bedarf.“ Sogar Michel Foucaults in den siebziger Jahren entwickelte Idee einer Biopolitik scheint darin angelegt, die Kontrolle immer weiter ins Körperinnere verlagert und auf die Überwachung der leisesten Lebensregung aus ist.

Nur wird der Zusammenhang, in dem Webers Wort steht, meist unterschlagen. Denn kapitalismuskritisch ist Max Weber zunächst nur im Sinn des Unterscheidenwollens. „Schrankenloseste Erwerbsgier“, heißt es im selben Atemzug, „ist nicht im mindesten gleich Kapitalismus, noch weniger gleich dessen ,Geist’.“ Er weiß: „Dies Streben fand und findet sich bei Kellnern, Ärzten, Kutschern, Künstlern, Kokotten, bestechlichen Beamten, Soldaten, Räubern, Kreuzfahrern, Spielhöllenbesuchern, Bettlern: – man kann sagen: bei ,all sorts and conditions of men’, zu allen Epochen aller Länder der Erde“. Deshalb kann Kapitalismus „geradezu identisch sein mit Bändigung, mindestens mit rationaler Temperierung, dieses irrationalen Triebes. Allerdings ist Kapitalismus identisch mit dem Streben nach Gewinn, im kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb: nach immer erneutem Gewinn: nach ,Rentabilität’.“

Man kann dies als das ewige oder nun doch endliche Schauspiel von Entfesselung und Zähmung der Produktivkräfte verstehen – aber auch so, dass es immer um weniger geht als das unbegreifbare Ganze. Der kommunitaristisch geprägte Philosoph Michael J. Sandel nennt es in seinem Buch „Was man für Geld nicht kaufen kann“ (Ullstein) schlicht die „moralischen Grenzen des Marktes“. Und in seinen legendären Einführungsvorlesungen „Gerechtigkeit – Wie wir das Richtige tun“ (als Video unter www.justiceharvard.org) zeigt er an vielen Beispielen die Beschränktheit utilitaristischen Denkens. Das ist nie radikal, dafür gründlich und eine Anleitung zu politischem Handeln. Denn das Monster Kapitalismus ist ein unförmiger Gegner. Gerechtigkeit im Einzelfall ist immer konkret.

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