zum Hauptinhalt
Der Autor und sein Kritiker. Walser mit Marcel Reich-Ranicki 1996 beim Literaturforum der jüdischen Gemeinde Frankfurt.

© picture-alliance/ dpa

Esprit und Erinnerung: Martin Walser wird 90 Jahre

Vom Glück der späten Jahre: Martin Walsers enormes Alterswerk und der Bann der deutschen Geschichte. Eine Gratulation zum 90. Geburtstag.

Es gibt in Martin Walsers Roman „Ein sterbender Mann“ eine Passage, in der er seinen Helden, den Ex-Unternehmer und „Nebenherschreiber“ Theo Schadt, Gedanken „ums Altsein“ herum notieren lässt. „Wenn ein Vierzigjähriger ausfällt“, schreibt Schadt, „wird ihm das nicht angekreidet. Bei einem Siebzigjährigen sagt jeder: Warum macht er das überhaupt noch!“ Auch bei Walser hat sich das mancher schon gefragt. Einer jedoch mit Sicherheit nicht: Walser selbst. Leben und schreiben, aus dem Geschriebenen lesen und darüber wie über vieles andere reden, das ist dem 1927 in Wasserburg am Bodensee geborenen Schriftsteller immer eins gewesen. Eine Alternative dazu gab nie, erst recht mit zunehmendem Alter.

Aus einem ewigen ihn bedrängenden Mangel heraus sieht Walser sich gezwungen, unentwegt Schreibwerkzeuge in die Hand zu nehmen, im Wissen darum, dass „mir was fehlt“, weil ihm die Sätze, die er zu Papier bringt, etwas mitteilen, „was ich, bevor ich diese Sätze schrieb, nicht gewusst habe“. So hat man den Eindruck, kaum nachzukommen mit der Walser-Literaturproduktion. Büchern wie „Statt etwas oder Der letzte Rank“, das gerade erst veröffentlicht wurde, „Ein sterbender Mann“ von 2016 oder dem Essay über den jiddischen Dichter Sholem Yankev Abramovitsh, „Shmekendike blumen“.

Er ist einer der deutschesten deutschsprachigen Großschriftsteller seiner Generation

Dabei ist ein Spätwerk entstanden, das seinesgleichen sucht, zumindest von der Anzahl der Veröffentlichungen her. Gerade in den Romanen weisen sie eine stilistisch-formale Zügellosigkeit auf, die Walser aber nicht schert. Der Beginn des  Spätwerks lässt sich nicht leicht terminieren, am ehesten noch mit dem Zeitpunkt, als Walser nach der Debatte über seinen Reich-Ranicki-Roman „Tod eines Kritikers“ von 2002 und den Turbulenzen bei Suhrkamp mit „Angstblüte“ zu Rowohlt wechselte. Seit seinem 1955 veröffentlichten Erzähldebüt „Ein Flugzeug über dem Haus“ war Suhrkamp sein angestammter Verlag.

Wirklich herausragende Bücher gibt es im Spätwerk nicht, am ehesten den Goethe-Roman „Ein liebender Mann“. Aber auch keine Tiefpunkte. So stellt sich im Zug der Feierlichkeiten zum 90. Geburtstag die Frage: Was wird einmal bleiben von Walsers riesengroßem Gesamtwerk? Woran wird man sich erinnern, wenn sein Name fällt? Damit ist man bei der Crux dieses vielleicht deutschesten aller deutschsprachigen Großschriftsteller seiner Generation: Seine Einlassungen zur deutschen Schuld überstrahlen das Erzählwerk, seine Debattierfreudigkeit und Streitlust, die einhergehen mit einer nicht zu therapierenden Zustimmungssucht und Verletzungsanfälligkeit. Angefangen bei den großartigen, heute noch gültigen, die gegenwärtige Erinnerungskultur auf den Punkt bringenden Auschwitz-Essays über die verunglückte Paulskirchenrede, die ihm den unberechtigten Vorwurf einbrachte, einen sich von aller Schuld befreienden Schlussstrich unter die deutsche Geschichte ziehen zu wollen. Bis hin zu „Tod eines Kritikers“, den Frank Schirrmacher in der „FAZ“ als „Dokument des Hasses“ gegen Marcel Reich-Ranicki bezeichnete: „Das Repertoire antisemitischer Klischees ist leider unübersehbar.“

Seine Romane und Essays standen oft im Bann der Geschichte

Walser verfolgen diese Debatten bis heute, genau wie die Verrisse des 2013 verstorbenen Großkritikers, nicht nur von außen. Er selbst erwähnt kaum verhüllt Reich-Ranicki und Schirrmacher auch in seinem jüngsten Buch „Statt etwas oder Der letzte Rank“. Es war schließlich der Kritiker Reich-Ranicki, der Walser 1967 anlässlich einer Aufführung seines Stückes „Die Zimmerschlacht“ in den Münchner Kammerspielen die „poetische Imagination“ absprach und konstatierte: „Auf jeden Fall hat Walser mehr Esprit als Phantasie“; der seinen Roman „Jenseits der Liebe“ verriss, sodass Walser mit Ohrfeigenfantasien reagierte; und der ihn konsequenterweise in seinen großen Kanon auch nur mit einem einzigen Essay aufnahm, einem Text über Heinrich Heine.

Tatsächlich fällt es schwer, einen wirklich großen, alles überragenden Roman von Walser zu benennen. (Tolle Essays gibt es zuhauf!) Die eine „Deutschstunde“ oder „Blechtrommel“, die ihm auch international mehr Ruhm beschert hätte, hat er nicht geschrieben. Sondern Angestelltenromane wie „Seelenarbeit“, „Halbzeit“ oder „Jenseits der Liebe“, Bücher mit Hauptfiguren wie dem Chauffeur Xaver Zürn, den Handelsvertreter Anselm Kristlein oder dem traurigen Franz Horn. Es sind Romane über deformierende Abhängigkeiten, die viel erzählen über die Bundesrepublik der 60er und 70er Jahre. Später schien es, als könnte Walser mit seinem Wiedervereinigungsroman „Die Verteidigung der Kindheit“, dem Erinnerungsroman „Ein springender Brunnen“ sowie der Paulskirchenrede und den Antisemitismusvorwürfen dem Bann der deutschen Geschichte gar nicht mehr entkommen. Er selbst sagte einmal: „Vergangenheit ist mein Element.“

In den letzten Jahren hat er betont, aus dem „Reizklima des Rechthabenmüssens“ ausgestiegen zu sein – und wirkt doch wie ein Schriftsteller auf Rehabilitationskurs etwa mit seinem Buch über Abramovitsh und der Aussage, dass er nach der Lektüre dieses jiddischen Dichters seine Paulskirchenrede so nicht mehr halten würde. „Ein bisschen zu gut“ gehe es ihm, betont er in seinem neuen Buch, und dass es ein Glück sei, „dass ich mir nicht verloren gehen wollte“. Man könnte auch sagen, was für ein Glück es sein muss, sich in diesem hohen Alter so gut oder gar „zu gut“ zu fühlen – und dass Martin Walser sich treu geblieben ist.

Zur Startseite