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Ismail Kadare.

© dpa/Andreu Dalmau

Erzählungen von Ismail Kadare: Macht ist Wahnsinn

Umweg über die Geschichte: Drei neu Erzählungen des albanischen Nobelpreiskandidaten Ismail Kadare sind und dem Titel "Die Schleierkarawane" neu aufgelegt.

Geschichten müssen reifen wie alter Wein oder guter Schinken. Nimmt ein Erzähler sie sich zu früh, entfalten sie keine Wirkung. Glaubt man Ismail Kadare, dann dauert es ein paar hundert Jahre, „bis die nötige Ausdörrung und Schrumpfung zur Legende“ erreicht ist. Denn darum geht es ihm: um das Herauslösen archaischer Muster aus gegenwärtigem Lebensstoff, um die Verwandlung von Ereignissen in mythisches Geschehen. Denn erst in dieser Form ist es den Menschen möglich, über das zu sprechen, was sie schreckensstarr durchlitten. Im Mythos ist die Geschichte da und doch fern.

Seit Jahren gehört der albanische Schriftsteller zu den Favoriten auf den Literatur-Nobelpreis. Bekommen wird er ihn wohl nie, obwohl er einer der großen europäischen Erzähler ist. Seine Rolle im kommunistischen Albanien unter Enver Hoxha wird ihm häufig zum Vorwurf gemacht, war er doch Mitglied der Partei und Parlamentsabgeordneter und galt als Günstling des Diktators. Dabei versäumte er es, den Schutz, dem ihn sein internationaler Ruhm und sein Zweitwohnsitz Paris gewährten, in deutlichere Kritik am System umzumünzen.

Surreale Albtraumszenarien

Aber was bedeutet das, wenn seine Literatur eine so messerscharfe Analyse und Darstellung von Unterdrückungsverhältnissen ist? Kadare musste diesen Zuständen nahe sein, um sie so durchdringen zu können. Es gibt kaum einen Autor, der die Atmosphäre der Angst, der Gewalt, der Bespitzelung, der Denunziation und des Opportunismus, der Lüge und des Aberglaubens und der Macht der Gerüchte so bedrückend darzustellen vermag wie er. Meisterhaft versteht er sich darin, beängstigende Gesellschaftsbilder in surrealistische Albtraumszenarien zu steigern und die mehr als absurde Wirklichkeit mit einem eiskalten, nüchternen Realismus darzustellen.

Häufig wich er in seinen Geschichten in andere Epochen aus, um auf dem Umweg über die Geschichte parabelhaft die albanische Gegenwart zu thematisieren. So auch in den drei jetzt unter dem Titel „Die Schleierkarawane“ neu aufgelegten Erzählungen, die allesamt in der Zeit des Osmanischen Reiches spielen, zu dem Albanien bis 1912 gehörte. Erstaunlicherweise sind diese Erzählungen erstmals 1987 in der DDR erschienen, zur Zeit der Perestroika. Joachim Röhm, in dessen Übersetzungen nach und nach das Gesamtwerk Kadares vorliegt, hat sie nun neu in ein klares, makelloses Deutsch gebracht.

Wer trauert, hat etwas zu verbergen

Am eindrucksvollsten ist sicherlich die 1983 entstandene Titelgeschichte. Sie handelt von einem Karawanenführer, der 500 000 Schleier auf dem Balkan verteilt, mit denen das im Zuge der Islamisierung vom Sultan erlassene Verschleierungsgebot durchgesetzt werden soll. Dieser ungebildete, unbedarfte Türke hat noch nie unverschleierte Frauen gesehen. Zunächst ist er beim bloßen Gedanken daran entsetzt, wird dann aber durch deren Anblick auf den Straßen Griechenlands in eine freudige Unruhe versetzt. Ordnungsgemäß verrichtet er seine Arbeit, doch auf dem Rückweg – die Schleier sind verteilt – verfällt er in eine tiefe Trauer, als er bemerkt, dass auf den Straßen keine Frauen mehr zu sehen sind. Seine Tränen erregen Verdacht: Wer trauert, hat etwas zu verbergen. Er wird verhaftet, verhört, gefoltert, doch er bleibt stumm, bis er ein paar Monate später in seiner Zelle stirbt.

Das ist die Geschichte eines Mannes, der seine Pflicht im Dienste des Systems erfüllt, der aber, nachdem er einmal hinausgeschaut hat in die Welt, nicht mehr zurückfindet. Und es ist die Geschichte einer anonymen Macht, die alles überwacht, selbst die Trauer und die Träume der Untertanen. In dieser überzeitlichen Perspektive ist auch der verrückte Diktator Enver Hoxha nur eine Parabel für die Verrücktheit der Macht, eine Sichtweise, die ihn verkleinert und denen, die unter ihm litten, vielleicht tröstlich gewesen ist.

Schreibweise eines Chronisten

Weniger gelungen dagegen die breit ausgepinselte Erzählung „Der Festausschuss“ über ein schreckliches Ereignis aus dem 19. Jahrhundert: Der Sultan lud 500 albanische Würdenträger zu einem großen Versöhnungs- und Friedensfest, das aber nur als Lockmittel diente, um sie alle zusammen niederzumetzeln. Auch die Familienchronik „Das Geschlecht der Hankonen“, das in einem großen Bogen 200 Jahre Geschichte aus Kadares Heimatstadt Gjirokastra resümiert, bleibt vergleichsweise flach.

Großartig ist Kadare immer, wenn er sich aus dem konkret Historischen löst, wenn seine klaustrophobischen Innenräume etwas Dämonisches, Existenzielles gewinnen oder, wie in der Figur des Karawanenführers, die innere Tragik eines Menschen kenntlich wird. Dafür hat Kadare mit seiner trockenen Schreibweise eines Chronisten, der dem Fantastischen gegenüber aufgeschlossen ist, ein unnachahmliches Gespür.

Ismail Kadare: Die Schleierkarawane. Erzählungen. Aus dem Albanischen von Joachim Röhm. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015. 208 Seiten, 19,99 €.

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