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Hat eigentlich nie so werden wollen. Hans Magnus Enzensberger, bald 85 Jahre alt.

© pa/obs/pro.media kommunikation

Erinnerungsband "Tumult": Enzensberger spricht mit Enzensberger

Autobiografie und Lebensbeichte: Hans Magnus Enzensberger führt in „Tumult“ ein geistvoll-kontroverses Selbstgespräch und stellt sich seinem Jahrzehnte jüngeren Alter Ego.

Interviews? Gibt der Dichter nur selten. Private Auskünfte? Nein, danke! Hans Magnus Enzensberger spricht nicht gerne über sich. Alles Autobiografische, womöglich Authentische ist ihm so suspekt wie die erste Person Singular. Der Öffentlichkeit entzieht sich Enzensberger nach Möglichkeit, schreibt lieber Gedichte, Essays oder philosophische Dialoge, wenn Romane, dann eher dokumentarisch angelegte. Und nun also eine Autobiografie, eine Lebensbeichte?

Nicht ganz, jedenfalls mitnichten in der Tradition eines Rousseau oder Goethe, mit denen Enzensberger seinem skeptisch leichtfüßigen Naturell entsprechend hadert (er hält es lieber mit Diderot). Mit „Dichtung und Wahrheit“ hat sein neues Buch „Tumult“ dennoch einiges zu tun, wobei es sich weniger um ein geschmeidiges Amalgam aus beidem handelt, wie in der Erinnerungsliteratur sonst (oder sagen wir bestenfalls) üblich, sondern um eine gewitzte, mitunter krachende Kollision.

Enzensberger, der am 11. November seinen 85. Geburtstag feiert – und zu diesem Anlass neben seinem unbedingt autobiografischen und tatsächlich beichtenden „Tumult“-Buch auch eine neue Auswahl seiner Gedichte (1950 - 2015) herausgibt – stellt sich der Vergangenheit. Genauer: seinem Jahrzehnte jüngeren Alter Ego. Der Junge, der nie so werden wollte wie der Alte, steht dessen Fragen Rede und Antwort, weicht aber auch aus oder lenkt ab.

Die Liebe hatte auf HME größeren Einfluss als die Politik

Auslöser des kontroversen, mitunter spitzen Selbstgesprächs sind mehrere in HMEs Münchner Keller entdeckte Kisten mit Notizen und Aufzeichnungen. Von einem Empfang bei Nikita Chruschtschow ist darin die Rede, dem der frischgebackene Büchnerpreisträger (er war damals 33 Jahre jung) als Mitglied einer Schriftstellerdelegation beiwohnte, von seiner Freundschaft mit Hans Werner Henze oder Nelly Sachs.

Bizarr fällt die persönliche Begegnung mit „El Comandante“ Fidel Castro aus, der dem Dichter höchstselbst einen kubanischen Camembert schenkt. Der von Enzensberger anfangs für gar nicht so spektakulär gehaltene Fund birgt außerdem einen veritablen „russischen Roman“ und führt einmal um die Welt, eine längst vergangene Welt: ins Sowjet-Russland, in die USA, ins revolutionäre Kuba, nach Norwegen, Rom. Und immer wieder ins Berlin der späten 60er, in die Jahre des großen Tumults, der Benno-Ohnesorg-Erschießung, des Rudi-Dutschke-Attentats, der Studentenrevolte und ihrer zunehmenden Radikalisierung. Enzensberger kannte Ulrike Meinhof persönlich, die Kommune I residierte für kurze Zeit in seiner Friedenauer Wohnung (bis Enzensberger sie rauswarf und bei Uwe Johnson einquartierte).

Tumult des Herzens

Seine Geschichte ist mit der Geschichte Berlins jener Tage eng verwoben, auch wenn er oft nicht da war. „Wie in der Schule, wie an der Universität und wie im Büro habe ich allzu oft gefehlt“, bekennt der Jüngere dem Alten. Beim Berlin-Besuch des Schahs saß er etwa in einer Moskauer Küche. Das hat mit dem ominösen „russischen Roman“ zu tun. So nennt Enzensberger bezeichnenderweise seine Liaison mit der blutjungen Russin Mascha, der er seine Ehe mit der Norwegerin und Berliner Kommunardin Dagrun opfert, mit der er auch eine Tochter hat.

Auf seine Entscheidungen und die vielen Ortswechsel jener Jahre übte diese amour fou, dieser „Tumult des Herzens“, einen weitaus größeren Einfluss aus als die nicht minder wirren politischen Ereignisse. Und das ist nur eine Schlussfolgerung, die man aus diesen Bekenntnissen ziehen kann, vorausgesetzt, ihnen ist über den Weg zu trauen. Die Wahrheit hat viele Gesichter. Einiges bleibt immer erdichtet.

Hans Magnus Enzensberger: Tumult, Suhrkamp, Berlin 2014, 287 S., 21,95 €; Gedichte 1950 - 2015, Suhrkamp, Berlin 2014, 250 S., 10 €

Tobias Schwartz

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