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Authentisch, wahrhaftig, gegenwartsnah. Die Journalistin und Schriftstellerin Fatma Aydemir, 30.

© Bradley Secker/Verlag

"Ellbogen" von Fatma Aydemir: Gegen den Rand

Irgendwas zwischen Entwicklungs- und Politroman: Fatma Aydemirs Debüt „Ellbogen“ erzählt von einer jungen Frau auf der Flucht in Erdogans Istanbul.

Der große weiße Aufkleber auf dem Cover der Vorab-Exemplare für die Buchhändlungen und Literaturredaktionen ist wahrlich nicht zu übersehen: „Eines der wahrhaftigsten Bücher“, bejubelt darauf Feridun Zaimoglu den Debütroman „Ellbogen“ seiner jungen Kollegin Fatma Aydemir. „Ein Wahnsinn von einem Roman.“ Der zweite Satz mag der übliche Übertreibungs- und Werbesatz sein. Das mit der „Wahrhaftigkeit“ jedoch klingt nach, Seite für Seite bei der Lektüre dieses Romans, der so richtig wahrhaftig und aktuell politisch endet mit dem Putschversuch im vergangenen Sommer in der Türkei. Den erlebt die gerade volljährig gewordene Ich-Erzählerin Hazal in Istanbul, und darüber hat Fatma Aydemir in ihrem Erstberuf als „taz“-Redakteurin berichtet, als sie sich zum Schreiben in Istanbul aufhielt.

Warum also ein Ereignis von so einer politischen Tragweite nicht gleich noch in den Roman über das Erwachsenwerden und die Selbstbehauptung und das Nicht-mit-sich-Einssein ihrer Heldin mit hereinnehmen? Wahrhaftig, in diesem Fall auch: gegenwärtig, kommt immer gut, oder? Nur ächzt „Ellbogen“ arg unter der Last seiner vielen Themen, die sich besonders im zweiten und dritten Kapitel finden, den türkischen Teilen gewissermaßen: vom Terroranschlag auf dem Istanbuler Flughafen über die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen und den Krieg des türkischen Staates gegen die Kurden bis hin zu eben jenem Putschversuch und seiner Niederschlagung. „Das Thema Erdogan langweilt mich nur noch zu Tode. Erdogan hier, Erdogan da“, ärgert sich Hazal einmal. „Alle drehen immer total durch, wenn sie über den reden. Aber wen zur Hölle interessiert das eigentlich, was wir über den denken. Als hätten wir irgendwas zu melden hier im Wedding in unserer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, können die nicht zur Abwechslung etwas anderes besprechen?“

"Ellbogen" ist bislang begeistert rezipiert worden - warum bloß?

Ach, hätte Fatma Aydemir sich selbst doch daran gehalten! Doch allein vom Leben einer jungen Deutschen mit türkischem Hintergrund und dem ihrer Freundinnen, Freunde und Familie in Berlin-Wedding zu erzählen, das schien der 1986 in Karlsruhe geborenen und aufgewachsenen Journalistin zu wenig zu sein. Obwohl der Stoff eine Menge hergibt, die Figuren aus Hazals Umgebung mehr verdient hätten als gerade einmal skizzenhaft porträtiert zu werden. Zum Beispiel Hazals Vater, der Taxifahrer ist, Erdogananhänger und ansonsten bevorzugt im Café mit seinen Kumpels abhängt; die Mutter, die mit diesem Mann von ihrer Familie verheiratet wurde, es nicht schafft, sich scheiden zu lassen und ihre psychischen Probleme mit Tabletten, Candy Crush und türkischen Soaps bekämpft. Hazals jüngerer Bruder Onur, der in die Kleinkriminalität abzurutschen beginnt. Oder Mehmet, den Hazal über Facebook kennengelernt, aber noch nie getroffen hat, mit dem sie per Skype kommuniziert und der sie fragt, ob sie sein Baby sein will. Was sie bejaht: „Mich hatte noch nie jemand so etwas gefragt. Es klang oldschool und irgendwie schön: sein Baby“. Und natürlich ist da auch die Heldin selbst. Hazal jobbt in der Bäckerei ihres Onkels, ist in einem Programm der BVB, der berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme, bewirbt sich erfolglos, zieht mit ihren Freundinnen Gül, Ebru und Elma um die Häuser und in die Clubs.

Das Milieu wirkt authentisch, zumal Aydemir, obwohl sich auf dem für eine Debütantin üblich bieder-sicheren Terrain des Erzählpräsens bewegend, ihrer Heldin einen ordentlich juvenilen, glaubwürdigen Sprachsound kreiert hat und ohne Anbiederungen an den deutsch-türkischen Sprachmischmasch der dritten Generation auskommt. Man kann die Begeisterung, mit der „Ellbogen“ bislang rezipiert wurde, vor diesem Hintergrund verstehen, auch weil dieses Milieu nicht gerade zu dem von der jüngeren deutschsprachigen Literatur bevorzugten gehört. Völlige terra incognita ist es jedoch auch nicht, angefangen von den Büchern des Schriftstellers Paul Geiersbach aus den achtziger Jahren („Wie Muzlu Öztürk schwimmen lernen muss“ oder „Bruder, muss zusammen Zwiebel und Wasser essen“) bis hin zu einem Film wie Fatih Akins „Gegen die Wand“. Letzterer scheint Fatma Aydemir jedoch dermaßen inspiriert zu haben, dass sie wie Akin mit seiner Sibel Güner Istanbul zum Fluchtpunkt für ihre Heldin macht. Hazal stößt mit zwei ihrer Freundinnen auf einem U-Bahnhof einen betrunkenen Studenten ins Gleisbett, weil dieser die drei angemacht hatte: „Ich steh auf dominante Frauen. Soll ich dir meinen Schwanz zeigen?“, und verschwindet daraufhin nach Istanbul, zu Mehmet in die Wohnung.

Der Roman ächzt unter der Last seiner politischen Themen

Von hier an kippt „Ellbogen“ ins einerseits Pittoresk-Touristische („Eine bucklige Frau zwickt kleine Stücke von ihrem Sesamring ab und wirft sie in die Luft, die Möwen fangen sie im Flug“), ins anderseits Gewollt-Politische, vermutlich um, wie es der Klappentext verspricht, „das zum Zerreißen gespannte Istanbul“ abzubilden. Mehmet arbeitet in einer Autowerkstatt und ist den Drogen sehr zugeneigt. Hazal wiederum versucht ihm eine gute Frau zu sein, wie es scheint. Mit Dusche, Creme und spärlicher Bekleidung bereitet sie sich Abend für Abend auf seine abendliche Heimkehr vor: „Damit er sofort erahnen kann, dass ich jederzeit bereit bin, dass er bloß zugreifen muss.“

Sie lernt dessen Mitbewohner Halil kennen, der kurdischer Abstammung ist, sich politisch betätigt. Halil erzählt ihr, wie es in seinem Heimatort Mardin in der Osttürkei zugeht, und eines Abends liefert er sich mit Mehmet ein Wortgefecht über die Rechtmäßigkeit kurdischer Anschläge: „Willst du mich ärgern, Mehmet? Die kurdischen Truppen greifen niemals Zivilisten an. Das macht nur der IS. Und du weißt ganz genau, mit wem der gut kann.“ Dann gibt es noch Gözde, Halils Freundin, die dem weltoffenen Istanbuler Bürgertum entstammt und Hazal mit „ihrem blöden Hippielook“ sofort ein Dorn im Auge ist, und nicht zu vergessen der Shisha-Café-Betreiber, die Gäste in diesem Café, in dem Hazal dann arbeitet, und und und. Alles schreit jetzt auf einmal nach Vollständigkeit, nach Gegenwartsabbildung, Zeitgeschehen und zerrissener Gespanntheit (was war noch einmal mit Hazal?). Es wirkt, als hätten nun Lektorat und Sachbuchressort des Verlags das Kommando übernommen oder wenigstens hilfreich Fingerzeige gegeben: Das muss noch rein und das und das.

Hazal ist auf Empfang. Sie setzt sich, trotz eigener Verpeiltheit, laufend mit den türkischen Verhältnissen auseinander, gleicht diese mit ihrer Situation ab. Das Ich, das da spricht, könnte nun auch das 30-jährige Journalistinnen-Ich sein, und das distanzlose Präsens macht das Ganze vollends disparat. Dabei hat „Ellbogen“ schon noch starke Passagen, immer wenn die Heldin nur auf sich selbst konzentriert ist, auf ihr „ganzes komisches Leben“, „das sich wie vergiftet anfühlt“. Oder sie sich mit ihrer aus Deutschland angereisten Tante Semra darüber auseinandersetzt, ob es für sie nicht besser sei, zurückzukehren und sich zu stellen. Die Panzer jedenfalls, die plötzlich durch Istanbul rollen, sind da keine echte Entscheidungshilfe, und wahrhaftiger machen sie eine altersgemäß widersprüchliche Figur wie Hazal erst recht nicht.

Fatma Aydemir: Ellbogen. Roman. Hanser Verlag, München 2017. 271 Seiten, 20 €.

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