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Trikolore, teutonisch. Flaggen - ein Blick in die Arbeitsräume eines Pinneberger Fahnenherstellers - bedienen das Bedürfnis.

© picture alliance / dpa

Eine Nation - was ist das überhaupt?: Das Wir und das Hier

Zivilisierte demokratische Staaten setzen sich heute aus vielen Völkern zusammen. Wer dagegen seinen Begriff der Nation auf ethnischer Identität gründet, landet schnell bei Blut und Boden.

Von Caroline Fetscher

Ein Grüppchen Fußballfreunde chattet. Auf der Website www.weltfussball.de geht es um das Thema Lieblings-Nationalmannschaften, und da irritiert einer von ihnen die anderen. „Bist du Serbe oder Iraker? Oder halb-halb?“ Wie kann jemand denn zugleich ein Fan von Roter Stern Belgrad und der irakischen Mannschaft sein? „Mein Vater ist Iraker“, erklärt der Angesprochene, „und meine Mutter ist ein ,Mischling‘ aus Russland, Bulgarien und Montenegro, aber die Familie von meiner Mutter lebt in Serbien.“ Staunend amüsiert sich der Frager: „Das ist ja krass, sorry, aber wie viele Väter hat denn deine Mutter gehabt?“ Wieder einer wundert sich: „Hääää, wie geht denn das? Du bist Iraker, Russe, Bulgare, Montenegriner, Serbe?“

Zu welchem Wir gehöre ich, gehörst Du? Der Fan von Roter Stern Belgrad lässt sich nicht national verorten, seine Chat-Partner haben Mühe, sich die „gemischte Mutter“ zu denken. Da stimmt doch was nicht! Aber sie nehmen es mit Humor.

Erbittert hingegen plagt sich Recep Tayyip Erdogan mit einem ähnlichen Problem herum. „Manche sagen, das seien Türken. Was für Türken denn bitte?“ Man müsse ihnen „Blutproben entnehmen“, empörte sich ungläubig der Präsident der Türkei. Er bezog sich auf deutsche Abgeordnete türkischer Herkunft, die der Armenien-Resolution des Bundestags zugestimmt hatten. Unabsichtlich lieferte Erdogan ein Paradebeispiel für die irren und irrigen Deutungen, die ethnischem Nationalismus zugrunde liegen.

Die Hierarchien von Adel und Klerus verloren an Bedeutung

Wer sind wir? Auf dem Gebiet eines Gebieters, ob er Zar war, Sultan, König oder Kaiser, gab es einfache Antworten. Wir sind seine Untertanen, wir leben auf seinem Stück Erde. Mit der Auflösung der feudalen Gesellschaften verloren die Hierarchien von Adel und Klerus an Bedeutung. Technische und agrarische Revolutionen und Säkularisierung brachten enorme soziale und räumliche Mobilität. Was mit Reformation und Buchdruck begonnen hatte, mündete in die Aufklärung, die Französische Revolution. Aus Untertanen waren Leute geworden, die Freiheit und Gleichheit suchten. „Drum, ihr Bürger, drum, ihr Brüder, alle eines Bundes Glieder“, hieß es 1845 zuversichtlich in Adalbert Harnischs „Bürgerlied“.

Ja, eines Bundes Glieder. Doch auch der neue Körper brauchte einen Rahmen, einen Namen. Was ist uns gemein? Das Wir und das Hier. Dass wir hier geboren wurden – und vom lateinischen Wort für „geboren werden“ leitet „Nation“ sich ab. Sie wurde zur Fassung eines Gemeinwesens, das neue Orientierung bot und Schutz, von Beginn an das Produkt von „nation building“, eine kollektiv errichtete, soziale Skulptur, eine „imagined community“, wie der Politologe Benedict Anderson sie nennt.

Das Gesinde war also fortgelaufen, und es gruppierte sich selber neu. Wie aber legitimiert es sich als Gruppe? Womit macht es Staat? Durch Gleichheit vor dem Gesetz, freie Wahlen, Gemeinwohl und Inklusion? Oder durch ein fantasiertes kulturelles wie genetisches Erbe, dessen nationalideologisches Arsenal von der Leitkultur bis zur Herrenrasse reichen kann? Wieder und wieder erliegen Nationen der Versuchung, so Hans-Ulrich Wehler, den Nationalismus zu ihrer „politischen Religion“ zu erheben. Weitaus verlockender, einleuchtender als komplexe Inklusionsmodelle erschien der identitäre Rekurs auf Väter und Vorväter. Johann Gottfried Herder beschwor 1769 das Wort „Vaterland“ als „Silberton im Ohr“ und hoffte, „patriotische Klagelieder“ würden „Tränen und Taten wecken“ für den „Nationalgeist“. Heute ist Herder beliebt bei frischgebackenen Nationalstaaten Europas, etwa in Kroatien.

Helden und Opfermythen werden aufgewärmt, Denkmäler errichtet

Unausweichlich entwickelte sich Wirrnis, wo sich Bevölkerungen zur ethnischen Nation wollen, etwa nach dem Zerfall von Vielvölkerstaaten wie des osmanischen oder zaristischen Reiches, der Sowjetunion oder Ex-Jugoslawiens. Dann behaupten die Zerfallsprodukte ihre je eigene Identität und Legitimität, indem sie ein Eckchen der Erde und ein echtes Erbe für sich reklamieren: Hier lebten schon immer wir!

Eine gewaltige nationale Bastelarbeit beginnt, es will ein Nationaltheater gezimmert werden, auf dessen Bühne das neue „Wir“ sich erkennen kann. Regionale und lokale Trachten, Speisen, Lieder, Mythen und Märchen werden im Fundus des Theaters gehortet und neu etikettiert. Helden und Opfermythen werden aufgewärmt, Denkmäler errichtet, die Schulbücher neu geschrieben. Voilà, so ist sie im vollen Gange, „die Erfindung der Nation“, wie der Historiker Eric Hobsbawm solche Prozesse treffend taufte. Und Lehrer verkünden ihren Schülern: Hier, auf diesem Gebiet, hört her, hier lebten immer schon wir, hier sprach man schon immer unsere Sprache.

Nach diesem Drehbuch gelangt der nationale Film ins Kollektivkino. Konsequent zurückgespult müssten die ersten Szenen des Schon-Immer-Films den mythischen Urvater zeigen, der mit mythischen Urmüttern eine erhebliche Menge an Söhnen und Töchtern zeugt, die sich inzestuös vermehren zu Clans, die wiederum sich durch Fortpflanzung zur „Ethnie“ multiplizieren: zu einer Menge Menschen „mit demselben Blut“ – mit verwandter DNA, würde es heute heißen. Aus der Fantasie der genetisch definierten Großgruppe entstand im Nationalsozialismus die Fantasie der rassisch reinen „Nation“. Doch gar so weit wie bis zum Urvater blenden ethnisch-nationale Filme kaum je zurück, in Richtung „Ursprung“ verlieren sie sich meist ein wenig im Halbdunkel.

Blutgerede, das ist es, was den Nationalismus ausmacht

Als der AfD-Politiker Alexander Gauland neulich erklärte, er wolle das Land so behalten, „wie wir es ererbt von den Vätern“ haben, da aktivierte er das Nationalphantasma des „Wir-immer-schon-hier“, wonach Väter und Vorväter hegemonialen Geltungsanspruch erwirkt hätten. Wo Ethnos statt Demos propagiert wird, entfaltet „Nation“ fatale Wirkung, da dem Phantasma des „Blutes“, das Primat vor dem Faktum der Bevölkerung eingeräumt wird. Das ist es, was den Nationalismus ausmacht: Blutgerede. Erdogans jüngste Worte sind dafür krude Zeugen.

Unlängst beschwerte sich Gauland, die Namen vieler Nationalspieler seien nicht mehr deutsch „im klassischen Sinne“, nicht wie 1954. Doch die kickende Truppe bestand auch im Weltmeisterjahr nicht nur aus solchen, die Helmut Rahn oder Fritz Walter hießen. Zu ihr gehörten etwa Heinz Kwiatkowski, Toni Turek, Fritz Laband oder Jupp Posipal. Die drei ersten Namen kommen aus dem Polnischen, wobei Turek die Bedeutung „Bürger der Türkei“ hat; der Name Posipal ist ungarisch-rumänischer Herkunft.

Die einzige Schonimmerhaftigkeit gilt für Mobilität

Wir schon immer hier, das stimmt nie. Die einzige Schonimmerhaftigkeit gilt für Mobilität. Schon immer siedelten und wanderten Leute unterschiedlicher Sprachen und Gewohnheiten auf jedem Territorium, das man unter die Lupe nimmt. Und sofort wird heute ein Patchwork der Minderheiten sichtbar. Auf jedem national in Anspruch genommenen Flecken Erde lebten und leben „Andere“ – Kurden oder Armenier in der Türkei, Ungarn in Serbien, Serben in Kroatien und überall so weiter. In fast ganz Europa einigte man sich einst auf Juden, aber auch Roma und Sinti, als „Nichtdazugehörige“. Konsequenzen aus solchem Wahn sind bekannt. Sie hießen und heißen Ausweisung, Abschiebung, erzwungene Umsiedlung, Vertreibung, Deportationen, Massaker, Pogrome, Genozide.

Lösen sich Staaten aus Diktatur und Tyrannei, starten sie heute oft als demokratische Tiger und laufen doch bald Gefahr, als ethnisch-folkloristische Bettvorleger zu landen, noch dazu blutbefleckte – wenn sie dem Nationalismus auf den Leim gehen. Zivilisierte, demokratische Staaten sind allesamt supra-ethnisch. Staatsbürgerliche Zugehörigkeit ist dort keine exklusive Clubmitgliedschaft allein für ethnische Verwandte, keine Sache der Gene oder des Schicksals, sondern ein Angebot der Inklusion. Auf solchen Territorien kommt es nicht zu Krieg, so zum Beispiel nicht in der Schweiz, nicht in Skandinavien, Kanada oder Amerika. Was immer man auch gegen diese Staaten einwenden mag, das sollte zu denken geben.

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