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Der Schriftseller Lászlo Végel kam 1941 zur Welt und lebt in Novi Sad.

© imago/Pixsell

Ein Gespräch mit Lászlo Végel: "Europa ist stolz auf Werte, die es längst aufgegeben hat"

Der ungarisch-serbische Schriftsteller Lászlo Végel spricht über den Rechtsruck in Osteuropa, den Konformismus der intellektuellen Eliten und das Wertevakuum des Westens.

Herr Végel, vor genau 50 Jahren erschien ihr Debüt-Roman „Bekenntnisse eines Zuhälters“, in dem es vor allem um die Probleme junger Menschen in Jugoslawien ging. Welche Bedeutung hatten damals für Sie im Alltag die Rebellion der 68er und das Echo der sexuellen Revolution?

Der Roman hat auf gewisse Weise die Rebellion der 68er vorweggenommen, aber auch deren Niederlage, die in unseren Zeiten offenkundig ist. Das 50-jährige Jubiläum von 1968 können wir mit einem sehr großen Gefühl der Niederlage feiern. Heute gibt es nichts mehr vorwegzunehmen, sodass dieser Teil des Romans über den geistigen Widerstand wie ein anziehendes Märchen klingt, denn im gegenwärtigen Kontext kann auch die Jugend nicht mehr als unschuldig angesehen werden. In meinem Roman stellt sich der Protagonist in den Dienst der verdorbenen alten Generation, hat aber wenigstens Gewissensbisse. Heute würde man dies Luxus nennen. Das Gewissen steht zum Verkauf.

Das heutige Europa scheint nicht in der Lage zu sein, eine Rebellion mit einer derartigen Wirkung hervorzubringen. Ungeachtet aller Illusionen der 68er waren sie doch eine internationale Front, die heute, so wie es aussieht, nur noch die Rechte zustande bekommt. Wie bewerten Sie diese momentane Schwäche der Linken?
Wir sind Zeugen eines schrecklichen Paradoxes. Je mehr sich das Demokratiefeld weitet, desto mehr wächst die Enttäuschung darin. Die Redefreiheit ist heute viel größer als vor 40 Jahren, aber die intellektuellen Eliten haben nichts mehr zu sagen. Der Konformismus wird nicht mehr auferlegt, sondern ist eine innere Notwendigkeit. Der größte Teil der Linken, zumindest in meiner Umgebung, verhält sich dem System gegenüber viel zu loyal, sie schimpft auf den westlichen Kapitalismus unter dem Schutzschirm lokaler Tycoons, kritisiert aber nicht den eigenen wilden östlichen Kapitalismus.

In Deutschland zieht erstmals eine extrem rechte Partei in den Bundestag ein. In Ungarn und Polen sind sie sogar an der Regierung. Gerade hat in Tschechien der Rechtspopulist Andrej Babis gewonnen. Wie sehen Sie diese Entwicklungen und was sind ihre möglichen Ursachen?
Man könnte zu Recht die Brüsseler Mandarine, multinationale Konzerne, Bankenlobbys kritisieren. Dabei ist aber Vorsicht geboten, denn sie sind Folgen, keine Ursachen. Die nationalen Bosse schieben oft ihre Verantwortung auf Brüssel ab, das zum neuen Feind geworden ist. Meines Erachtens ist dies ein irreführendes Spiel: Die Hauptursache der Krise liegt in der Krise der Nationalstaaten, die in Zeiten der Globalisierung das Monopol verloren haben. Die antieuropäische Stimmung wird heute durch nationale Tycoons angeheizt, die entweder durch beschämende Kriege wie in Jugoslawien oder durch EU-Gelder reich geworden sind. Daher der Hinweis auf Vorsicht. Die Krise des Nationalstaates bedroht zugleich auch die Demokratie. Extremismus fällt nicht vom Himmel, er ist Produkt dieser Krise.

Eine der Schlüsselfragen der Europäischen Union ist heute die Immigrantenfrage. Wie sehen Sie als Schriftsteller, der bereits seit Jahrzehnten auf dem kulturell vielfältigen Gebiet der Vojvodina lebt, das Verhältnis der EU gegenüber Immigranten und die allgemeine Weigerung Europas, diese Menschen richtig zu integrieren?
Es geht nicht allein um Immigranten, sondern um allgemeine Angst vor dem Anderssein, die besonders in postsozialistischen Staaten auftaucht. Die durchleben eine Art von retronationaler Renaissance. Man kann das an den Schicksalen der nationalen Minderheiten in Südosteuropa und auf dem Balkan sehen. Professor Holm Sundhaussen hat in einem glanzvollen Text bewiesen, dass die großen Verlierer der Samtenen Revolution in der Tschecheslowakei gerade die nationalen Minderheiten sind, denn danach folgte der samtene Totalitarismus, der die Homogenisierung der Nation deutlich effizienter betreibt als der Totalitarismus im sozialistischen System. In meinem Roman „Sühne“ habe ich über Europa aus dem „unteren Bildwinkel“ geschrieben. Es ist die Geschichte von einem Bus mit Gastarbeitern, der aus Südserbien Richtung Berlin fährt. Wo ist ihre Heimat? Dort, wo sie sterben werden. Und, wo werden sie sterben? Das wissen sie nicht. In diese Situation sind die Immigranten gekommen.

"Bisher hat niemand die Leiche des Sozialismus begraben, die jetzt stinkt"

Der Schriftseller Lászlo Végel kam 1941 zur Welt und lebt in Novi Sad.
Der Schriftseller Lászlo Végel kam 1941 zur Welt und lebt in Novi Sad.

© imago/Pixsell

In Deutschland hört man im Zusammenhang mit der Integration oft von einer Leitkultur oder einem Wertekanon, der Geflüchteten vermittelt werden soll.
Ja, man spricht von der Verteidigung europäischer Werte und europäischer Kultur. Ich frage mich: Ist es dafür nicht bereits zu spät? Haben wir uns nicht bereits viel früher im Namen des Marktes und des Konformismus von der europäischen Kultur verabschiedet? Warum sind wir auf das stolz, das wir selbst marginalisiert haben? Noch einmal vom unteren Bildwinkel betrachtet: Europa fürchtet die Immigration, weil es sich von der eigenen Kultur verabschiedet hat und nicht in der Lage ist, die Immigranten zu integrieren. Wie soll man sie denn im eigenen Vakuum integrieren? Daher erwarte ich große Konflikte.

Wie sehen Sie die Position der Schriftsteller aus dem mitteleuropäischen Kreis im heutigen europäischen Rahmen, wie nah oder wie weit sind sie entfernt von einem Danilo Kiš oder Milan Kundera?
Ein bisschen komisch, ein bisschen tragisch. Die neuen Ereignisse in Mitteleuropa revidieren Kunderas These, die Russen hätten Mitteleuropa versklavt. Nein, nach dem Fall der Berliner Mauer hat Mitteleuropa selbst Jalta mit einer neuen imaginären Linie fortgesetzt. Stalin würde darüber lächeln, und Putin kann auch zufrieden sein, denn seine Ideen erobern die Region ohne russische Bajonette. In dieser Region ist der Rechtsextremismus am stärksten ausgeprägt, wie auch der neue samtene Populismus, und das Bürgertum ist bei freien Wahlen leidenschaftlich auf der Suche nach einem neuen Führer. Diktatorische Methoden sind für die Geburt eines weichen Totalitarismus nicht nötig. In der Zwischenzeit hat die herrschende neue Klasse Mitteleuropas das westliche Marketing erfolgreich übernommen und dabei auch die sogenannte intellektuelle Opposition integriert. So auch die Schriftsteller. Das „nationale Team“ bilden auch Schriftsteller, die anecken, aber bei ihren europäischen Auftritten die Unterstützung nationaler Institutionen genießen. Die Rebellion wurde erfolgreich gezähmt. Die Schriftsteller stören sich vielleicht an einzelnen Politikern, das System ist für sie aber kein Problem mehr.

In Ihrem Essaybuch „Erzählungen aus niederen Regionen – Berliner Texte“ haben Sie über die eigenartige Zerrissenheit des die Identität Bestimmenden gesprochen, aber auch über einen zerstörten Traum von Europa. Was bedeutet Europa für Sie heute, wenn man sein Verhältnis zum östlichen und balkanischen Teil betrachtet?

In „Sühne“ ist einerseits die Rede von der Autokolonisation der Mitteleuropäer und Balkaner im Verhältnis zum Westen und andererseits vom permanenten Hass gegenüber dem Westen, der sich insbesondere nach dem Selbstmord des Sozialismus verschärfte. Wir leben in einem Vakuum. Es ist naiv zu glauben, der Sozialismus wurde von jemandem zu Fall gebracht. Nein, er beging Selbstmord, wie dies eine der Romanfiguren sagte. Das Problem besteht aber darin, dass es niemanden gibt, der diese Leiche begraben könnte, die jetzt stinkt. Wir haben keine eigene Antigone. Westeuropa schaut sich dies unwissend an, in den achtziger Jahren hegte es noch eine gewisse Sympathie, da es glaubte, antikommunistisch zu sein, aber mit dem Verschwinden des „Kommunismus“ sind wir nur ein Markt für Güter, Kitschkultur und billige Arbeitskraft geworden.

Das Gespräch führte Djordje Krajišnik. Lászlo Végel, 76, lebt als Angehöriger der ungarischen Minderheit im serbischen Novi Sad. 2006 verbrachte er ein Jahr als Gast des DAAD-Künstlerprogramms in Berlin. Im Verlag Matthes & Seitz erschien zuletzt sein Essayband "Sühne".

Djordje Krajišnik von der Zeitung „Oslobodjenje“ aus Sarajevo nimmt am Austauschprogramm „Nahaufnahme“ des Goethe Instituts teil und ist im Oktober Gast der Kulturredaktion.

Djordje Krajišnik

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