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Documenta 13: Die losen Enden der Welt

Hundert Tage Kunst und Trubel, tausend Fragen: Am Wochenende eröffnet in Kassel die 13. Documenta. Erklärungen bleibt das internationale Kunstevent schuldig, aber den Anspruch einer Weltausstellung löst es souverän ein. Die Schau ist ein Ereignis

Niemand hat gesagt, dass es einfach werden würde. Die Documenta hat es ihren Besuchern schon immer nicht leicht gemacht. Die bis heute international bedeutendste Ausstellung für zeitgenössische Kunst will alle fünf Jahre nichts weniger als die Welt erklären oder Erklärungsmodelle liefern. Die 13. Ausgabe reiht sich da ein in eine große Tradition. Bereits vor der Eröffnung am kommenden Samstag hat die Documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev für Irritation gesorgt, als sie bekundete, ihr Konzept bestehe darin, kein Konzept zu haben. Doch nun zeigt sich: Ihr „Museum der 100 Tage“ zeugt vom Willen zum großen Wurf.

In Kassel wird das neue Denken geprobt. Nicht nur die Künstler offenbaren sich, sondern auch Vertreter der Quantenphysik, der Genforschung zeigen die Brüchigkeit bisheriger Erkenntnisse. Kunst und Wissenschaft nähern sich an, tauschen ihre Unsicherheit aus, aber auch ihre Wissbegier. Wie ist das mit dem Licht – besteht es nun aus Teilchen oder Wellen? Wie mit den Genen – reagiert unsere DNA spontan auf äußere Einflüsse? Zeit, Raum, Materie werden hier verhandelt. Die Fragestellungen sind einer Documenta würdig, für den großen intellektuellen Schaukampf, der immer auch den Gesetzen der visuellen Opulenz, des Stadtmarketings, des Kunsttourismus genügen muss. Schließlich sollen diesmal mehr als 750000 Besucher nach Kassel kommen.

Statt von Kunst spricht Carolyn Christov-Bakargiev lieber von der Intelligenz der Dinge, der Gleichberechtigung von Mensch und Tier als Rezipienten. Im Fridericianum, dem Allerheiligsten einer jeden Documenta, der denkerischen Zentrale, macht sie aus dieser gezielt produzierten Ratlosigkeit ein schlüssiges Entree. Den Besucher erwartet rechts und links in den großen Sälen, deren Fenster raus zum großen Friedrichsplatz führen, das große Nichts. Zumindest auf den ersten Blick. Der Eintretende aber spürt eine sanfte Brise, erzeugt von einem großen Gebläse, das der Brite Ryan Gander installiert hat. Der Besucher wird gleichsam selbst zum umwehten Benjamin’schen Engel der Geschichte, der sich in der Vorwärtsbewegung umdreht und der Zukunft den Rücken zuwendet.

Von dieser Überlagerung der Zeitebenen zeugt auch die Vitrine mit drei Skulpturen des spanischen Bildhauers und Picasso-Freundes Julio González. Genauso haben die drei kleinen abstrakten Bronzen auch 1959 bei der Documenta II hier gestanden. Ein Foto dokumentiert es, auf dem eine Besucherin barfuß an ihnen vorüberläuft. Barfuß? Diese Irritation passt. Geschichte kommt ohne Schuhe daher. Wie schon ihre Vorläuferinnen, so erweist auch diese Documenta dem Gründungsmythos der Weltkunstausstellung ihre Reverenz. Pathos und Zehenwackeln liegen ganz nah beieinander. Wie bei jener Fotoserie, die Lee Miller 1945 in Hitlers Münchner Privatwohnung von sich selbst in der Führerwanne machte. Diese Überlagerung löst noch heute Schaudern aus.

Die Aufnahmen hängen in der Rotunde des Fridericianum, „The Brain“ genannt, wo sich wie im Baukasten Bilder und Objekte befinden, die das Prinzip dieser Documenta erläutern, ungefähr. Etwa die sogenannten „Baktrischen Prinzessinnen“, 4000 Jahre alte, rätselhafte Statuetten aus Nord-Afghanistan, die für den starken weiblichen Anteil der Ausstellung stehen könnten, oder jene kürzlich wiederentdeckte, fast völlig ruinierte frühe Zeichnung des Autodestruktions-Künstlers Gustav Metzger, der während des Nationalsozialismus als Kind in London überlebte und dessen Werk die Verbindung zwischen Gegenwartskunst und jüngster deutscher Vergangenheit herstellt.

Die Bausteine dieser Documenta sind Intuition und Geschichtsbewusstsein, Schönheit und Grausamkeit. Diese Gegensatzpaare finden sich in den Aufnahmen Vandy Rattanas, der idyllische Landschaftsteiche in Kambodscha fotografierte, die sich als Bombenkrater amerikanischer Kampfflugzeuge erweisen. Sie finden sich in den Stillleben Giorgio Morandis, der seine somnambulen Bilder malte, während um ihn herum der Faschismus herrschte. Carolyn Christov-Bakargiev zieht all diese losen Enden zusammen. Die von ihr eingeladenen 150 Künstler aus 55 Ländern wirken wie Zuträger eines Gesamtbildes, das doch immer wieder verschwimmt. Hier geht es nicht um den Status quo der Kunst, womöglich die Setzung eines Trends für die nächsten Jahre. Vielmehr wird geforscht nach einer Weltsicht mit Hilfe der Kunst, ohne von ihr Taten zu verlangen, wie dies etwa die aktionistische Berlin-Biennale derzeit versucht. Die Documenta kokettiert sogar mit dem Moment der Machtlosigkeit, indem sie eine Dependance in Kabul einrichtet, die sich den Blicken des hiesigen Publikums entzieht, dafür aber andere Spuren hinterlässt.

Der Mexikaner Mario Garcia Torres machte sich in der afghanischen Hauptstadt auf die Suche nach jenem legendären Hotel One, das der italienische Künstler Alighiero Boetti dort in den siebziger Jahren führte, wo auch seine berühmten gestickten Weltkarten gefertigt wurden. Torres eröffnete es erneut und zeigt in Kassel einen Film über seine Recherche. Im Nebenraum hängt Boettis Weltkarte, die eigentlich schon 1971 zur Documenta 5 hätte gezeigt werden sollen, aber erst ein Jahr später nach Europa gelangte.

So gewaltig die Documenta daherkommt, so emphatisch einzelne Werke inszeniert werden, wie etwa der Thomas Bayrle gewidmete Saal mit seinen „Ave Maria“ summenden Automotoren, so sehr lehren sie doch Demut. Diese Erkenntnis verpackt der Kanadier Geoffrey Farmer in Tausende Aufnahmen, die er aus „Life“-Magazinen der Jahrgänge 1935 bis 1985 schnitt, an unterschiedlich hohen Strohhalmen befestigte und im langen Gang der Neuen Galerie zu einem Strom der Bilder verschmolz. Er hat damit eine moderne Version des Höhlengleichnisses gefunden. Wir sehen nur Schatten und wundern uns.

Der Berliner Provo-Star Jonathan Meese sieht das natürlich anders: „Ich bin doch ein Haifisch, ich rieche doch, wenn irgendwo ein geiles Kunstwerk entsteht.“ Hier aber rieche er nur „ich-versaute Typen“ und „ich-versauten Dünnpfiff“, schimpfte er bei einer Diskussion in der Uni Kassel. Meese gehört nicht zu den eingeladenen Künstlern.

Im Untergeschoss der Neuen Galerie zeigt der ägyptische Videokünstler Wael Shawky eine Fortsetzung seiner „Kabarett-Kreuzzüge“, bei der Marionetten die Geschichte der Kreuzzüge nachspielen, diesmal aus Sicht der Araber. Ein finsteres, blutiges Spiel, das sich sofort mit den jüngsten Ereignissen im Nahen Osten verbindet. Die Kunst dieser Documenta ist ein schöner, trauriger Vogel, der hoch oben fliegt und herabschaut. Die Ausstellung ist ein Ereignis.

Den Anspruch einer Weltausstellung löst diese Documenta allemal ein, die Erklärungen bleibt sie jedoch schuldig. Das bedeutet kein Scheitern, sondern animiert mehr noch zum eigenen Denken. In großen zeichnerischen Arbeiten hat die Amerikanerin Julie Mehretu die Grundrisse vom Tahrir-Platz in Kairo und dem Zuccotti-Park in Manhattan, wo die Occupy-Wall-Street-Bewegung campierte, auf die Leinwand übertragen. Sie sucht nach Verbindungen. Vielleicht gibt es ja doch einen Plan.

Die Documenta beginnt am Samstag, 9. Juni, und ist bis zum 16. September täglich von 10 bis 20 Uhr geöffnet.

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