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Gegen das Dünnerwerden der Haut. Natascha Wodin.

© Susanne Schleyer/Jung und Jung

Die Schriftstellerin Natascha Wodin und ihr neues literarisches Ich: Eine Löwin wird müde

Der Sex, die digitale Welt und das Alter: Natascha Wodin erzählt in ihrem Roman "Alter, fremdes Land" von einer Pubertät im Herbst des Lebens.

Ihre Heldinnen, gebrochene, geschundene, liebes- und lebenskranke, sind Ich-Erzählerinnen, am liebsten namenlose – denn, so hat Natascha Wodin einmal gesagt, „wenn ich für eine Figur einen Namen habe, ist sie schon halb festgenagelt“. So hat sie es in ihren bisher fünf egozentrischen, ja, mitunter egomanischen Romanen gehalten und dabei stets so tief aus eigenem Erleben geschöpft, dass die Ich-Figur mit ihrer Erfinderin beinahe verschwamm.

„Einmal lebt ich“ (1989) – der Titel ist ein Hölderlin-Zitat – heißt eines ihrer frühen, kaum larvierten Selbstzeugnisse. Darin erzählt sie die Geschichte eines 1945 in Fürth als Tochter einer ukrainischen Zwangsarbeiterin und eines Russen geborenen Mädchens, das sich, vom Vater nach dem Selbstmord der Mutter geschurigelt und gequält, zur Streunerin entwickelt und schließlich die Frucht einer Vergewaltigung abtreibt. Zuletzt, in „Nachtgeschwister“ (2009), brachte Wodin geradezu fiebernd den Schlüssel(loch-)roman ihrer jahrelangen Beziehung zu Wolfgang Hilbig zu Papier. Auch hier schreibt und schreit sich ein Ich frei, das gar nicht anders kann, als hineinzustürzen in die Wörter-, Gedanken- und Lebenswelt eines ersehnten Seelenverwandten.

In „Alter, fremdes Land“ nun geht Natascha Wodin, die ihren russischen Nachnamen Wdowin einst auf Wunsch eines Verlags eindeutschte, erstmals spürbar auf Distanz – nicht zur Welt, die sie im Zweifel ohnehin als feindlich erfährt, sondern zu sich selbst. Ihre Heldin Lea begleitet sie als auktoriale Erzählerin vergleichsweise kühl – und weil jeder Name laut Wodin „ein ganzer Kosmos“ ist, hat sie sogleich eine komplexe Konnotation parat: „Hatte Lea sich bisher mit der lateinischen Bedeutung ihres Namens identifiziert, mit der Löwin, so war sie jetzt in seiner hebräischen Bedeutung angekommen, jetzt war sie Le’ah, die Ermüdete.“

Im Netz wimmelt es von jungen Männern, die mit alten Frauen Sex haben wollen

Zu Beginn ist Lea, Schriftstellerin und seit der Wende in Prenzlauer Berg wohnend, 63, wie Wodin; das Alter spürt sie an einem „Dünnerwerden der Haut“, die „das hässlich Inwendige“ zum Vorschein bringt. Stärker noch beschäftigt sie der Unterschied zwischen Selbst- und Fremdbild. Von Fremden bereits „Oma“ genannt, fühlt sie sich restjugendlich, jedenfalls solange ihr der Spiegel nicht eben jene Außenwahrnehmung zurückwirft. Das Schmerzhafteste: „Der Funke war aus den Augen der Männer verschwunden.“ Die erotische Unsichtbarkeit deutet Lea als eigentliche Krankheit zum Tode.

Auf diesem Leitmotiv, dem Fremdeln mit dem Unweigerlichen, entwickelt „Alter, fremdes Land“ seine fast reportagehafte Oberfläche. Lea erliegt den Lockungen des Internets, legt sich in Chatrooms wechselnde Nicknames zu und spielt mit Identitäten und fiktiven Lebensaltern. Und wird süchtig nach digitaler Nähe und bald auch nach real dates. Die Abenteuer Leas beobachtet Wodin in schmuckloser, überwiegend elegant dahingleitender Sprache, wobei sie Leas mal belustigte, mal staunende Perspektive gelassen übernimmt. Größte Überraschung bei dem sich über zwei Jahre hinziehenden Liebesfeldversuch: Die digitale Tarnung als junge Frau ist Unfug. Im Netz wimmelt es von jungen Männern, die mit alten Frauen Sex haben wollen. Den hat Lea dann auch, bis sie der Sache müde wird.

Wenn man von einer Sadomaso-Episode absieht, ähnlich ritualisiert wie im Regelwerk von „50 Shades of Grey“: Sexuell explizit ist der Ton dieses (Selbst-)Erforschungsbuchs am wenigsten. Vielmehr untersucht Wodin die (Selbst-)Täuschungen, die mit den digital angestoßenen Beziehungen einhergehen. Da gibt es den kuriosen Wirklichkeitsschock, den Lea mit einem österreichischen Landgeistlichen erlebt, als der sich nach längerem Virtualaustausch tatsächlich zu ihr nach Berlin wagt. Oder sie registriert Leas tiefes Befremden darüber, wie sehr sie sich etwa an einen Ulrich bindet, eine „Adresse aus Luft“. Einzig die heftige, so musikalische wie körperliche Affäre mit einem 23-jährigen Pianisten lässt, anrührend fein, jene Emotionsmembran vibrieren, die Natascha Wodin in ihren früheren Büchern so ausschweifend bediente.

Noch eindrücklicher wäre diese Zurückhaltung, wenn Wodin nicht passagenweise in ein planes Plaudern verfiele, in rhetorische Fragen, in Redundanzen, auch ins Redensartliche („Nadel im Heuhaufen“, „keine ruhige Minute“, „eine kleine Ewigkeit“, eine Wohnung wie ein „Taubenschlag“ usw.). Hier streifen Autorin wie Lektorat ohne Not die literarische Nachweisgrenze. Dennoch beeindruckt der distanzierte, keineswegs denunzierende Ton, in dem hier die lebensherbstlichen, gespiegelt pubertären Wirren einer Frau abgehandelt werden, die ihr Alter annimmt, indem sie es im Wortsinn auslebt. Das neue literarische Ich Natascha Wodins ist ein anderes – und sei es, weil sie es, einen Schritt beiseite tretend, noch einmal neu begreift.

Natascha Wodin: Alter, fremdes Land. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2014. 216 S., 19,90 €.

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