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Die Opéra de Lyon wurde ursprünglich 1831 errichtet und dann 1993 umgebaut von Jean Nouvel.

© Franchella Stofleth/Opéra de Lyon

Die Opéra de Lyon: Auf schwankenden Planken

Die Opéra de Lyon ist Frankreichs spannendstes Musiktheater – denn auf Jean Nouvels radikale Architektur reagiert das Haus auch künstlerisch

Schwarz ist Jean Nouvels Fetisch-Farbe. Das sagt sich so leicht dahin. In der Opéra de Lyon aber bekommt der Besucher hautnah zu spüren, was das konkret bedeuten kann. Das Schwarz rückt ihm hier nämlich förmlich auf die Pelle. Es war eines der ersten großen Projekte des heute global aktiven französischen Architekten, als er 1993 das alte, 1831 errichtete Theater der Stadt komplett entkernen und im Innern neu erfinden durfte. Kaum hat der Besucher die Eingangstür durchschritten, wird er vom Dunkel verschluckt. Niedrig wie in einer Sozialbauwohnung sind die Decken, und zwar nicht nur im Eingangsbereich, sondern auch in den oberen Ebenen. Wände und Fußböden bestehen aus schwarzem Material, vorzugsweise aus Metall, was zu verwirrenden Spiegelungen führt. Auf dem weiteren Weg zum Saal muss der Besucher über Lochbleche laufen, die beim Betreten bedrohlich nachgeben. Man denkt an die Ästhetik von Discotheken in den achtziger Jahren, an Lack und Leder.

Und dann kommt die Farbexplosion: von oben bis unten in knalligem Rot leuchten die Vorräume zum Saal und reizen zu weiteren wüsten Assoziationen, vom Bordell bis zum Geburtskanal. Komplett in Schwarz gehalten ist dann wieder der Zuschauerraum: Wenn die Oper ein Kraftwerk der Gefühle ist, dann muss das hier der Maschinenraum sein. Viel Metall wurde verbaut, vor allem im harten, kantigen Gestühl. Steil und wehrhaft ragen die sechs Ränge über dem Parkett auf.

Das Sehen-und-Gesehen-Werden wird hier radikal unterbunden

Ein Musiktheater als Zumutung. Als Statement. Und vor allem als Herausforderung an die Gäste. Das alles ist Jean Nouvels Gebäude. Extrem gedacht, konsequent gemacht: Im Gegensatz zum Pariser Palais Garnier, dem Inbegriff des kulturellen Repräsentationsbaus, bei dem die Foyers mehr Fläche einnehmen als der Zuschauerraum, wird in Lyon das Sehen-und-Gesehen-Werden radikal unterbunden. Die viel zu schmale alte Pausenhalle, die in ihrem originalen überbordenden Dekor erhalten wurde, wirkt wie ein skurriler Fremdkörper in dem Gebäudekomplex. Alle Aufmerksamkeit soll hier auf das Bühnengeschehen fokussiert werden.

Wie eine Reise in eine fremde Welt möchte der Architekt das Vordringen des Zuschauers von der Straße zum Sitzplatz verstanden wissen. Ein Tappen im Dunklen erst, dann ein elektrisch angetriebenes Hinaufgleiten über Rolltreppen wie auf einem Flughafen, schließlich ein Schreiten über schwankende Planken wie auf einem Schiff. Die Geländer sind als Relings gestaltet, selbst die Außenhaut des Saales, der in den Bereich der Treppenhäuser ragt, hat Jean Nouvel mit demselben Lack streichen lassen, mit dem Boote abgedichtet werden.

Eine traditionelle Programmplanung verbietet sich geradezu in so einem Haus. Serge Dorny, Intendant seit 2003, nimmt die Herausforderung gerne an. Weil er auch die Lokalpolitik hinter sich weiß. 20 Prozent ihres jährlichen Budgets gibt Lyon für den Kulturbereich aus, für Musik, Museen, Bühnen und Bibliotheken. Im Berliner Haushalt sind es noch nicht einmal zwei Prozent. 17 Millionen Euro erhält das Musiktheater pro Jahr von der Stadt, mit den Zuschüssen vom Land und aus der Region summiert sich die Förderung der öffentlichen Hand auf knapp 30 Millionen Euro. Damit lassen sich 364 Mitarbeiter beschäftigen, die pro Saison über 400 Veranstaltungen stemmen.

Weil allerdings nach französischer Tradition im Stagione-Prinzip gespielt wird, finden nur 84 Abende im Großen Saal statt. Der weitaus größte Teil des Angebots gibt sich bewusst niedrigschwellig: Denn die Truppe versteht sich als aktiver Teilnehmer der Stadtgesellschaft, will nachhaltig die urbane Entwicklung mitbestimmen. Indem die Künstler ihrem Publikum auch entgegenkommen, in den Schulen, Jugendzentren, ja sogar in Krankenhäusern und im Gefängnis. Die Breakdancer, die unter den Arkaden der Oper vor den verspiegelten Fensterfronten ihre Moves verfeinern, sind nicht nur geduldet, sondern erwünscht. Auch der Ex-Freund von Popstar Madonna, Brahim Zaibat, hat hier einst mit seiner Gruppe geübt. Die besten von ihnen werden sogar in den Probensaal der hauseigenen Ballettkompanie eingeladen.

Spektakulär ist die große Glaskuppel, die Nouvel dem Theater aufgesetzt hat

Hier, im obersten Stockwerk der gläsernen Kuppel, die Jean Nouvel dem Altbau aufgesetzt hat, um Raum für Büros, Garderoben und Probesäle zu schaffen, schweift der Blick weit über die zwischen Rhône und Saône gelegene Stadt bis hin zu den Hängen der umliegenden Hügel. Sonntagsvormittags, wenn die Tänzer pausieren, geben Mitglieder des Orchesters vor der spektakulären Kulisse Kammerkonzerte. Musik aller Genres wird zudem in einem multifunktionalen, Amphitheater genannten Auditorium, geboten, mehrmals pro Woche, oft kostenlos, sonst zu sehr moderaten Preisen.

Mit diesem Konzept der offenen Arme ist es Serge Dorny gelungen, den Altersdurchschnitt seines Publikums sensationell zu senken: Die Hälfte der Besucher ist jünger als 45 Jahre, ein Viertel sogar unter 25. Viele ältere Lyoner meiden das Haus allerdings auch, weil sie sich in der Dunkelheit der Gänge und Flure unsicher fühlen – obwohl das 40-köpfige Vorderhauspersonal nach Kräften Orientierungshilfen gibt. So mancher vermisst zudem in der Programmplanung die Wohlfühl-Blockbuster. Keines der Kernrepertoirestücke zeigt die Opéra de Lyon in der laufenden Saison, dafür Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ in einer Inszenierung des Regie-Avantgardisten Dmitri Tscherniakow, Peter Sellars’ Doppelabend von Tschaikowskys „Iolanthe“ und Strawinskys „Persephone“ oder Mozarts „Entführung aus dem Serail“ in der Deutung des Schauspielregisseurs Wajdi Mouawad, der in seinen Arbeiten stets danach strebt, das Poetische mit dem Politischen zu verschmelzen.

Zu Ostern 2016 gibt es ein "Festival der Menschlichkeit"

Wichtig ist dem Intendanten aber auch die Pflege des französischen Repertoires: Darum präsentiert er Ausgrabungen wie die Offenbach-Operette „Le Roi Carotte“ und spielt Fromental Halévys 1835 entstandene Grand Opéra „La Juive“. Letztere erlebt ihre Premiere während des „Festivals für die Menschlichkeit“ im März. In der Hoffnung auf viele auswärtige Besucher stemmt das Haus jeweils um Ostern gleich mehrere Neuproduktionen: Toleranz steht 2016 im Mittelpunkt – und die Angst vor dem anderen. Religiöser Fanatismus ist das Thema bei Halévy, während es bei der Uraufführung einer Oper des Schriftstellers Régis Debray und des Komponisten Michel Tabachnik um Walter Benjamin geht, der nicht nur vor den Nazis fliehen musste, sondern sich auch intellektuell stigmatisiert fühlte, vor allem durch Adorno. Mit „Brundibár“ von Hans Krása und dem „Kaiser von Atlantis“ von Viktor Ullmann werden zwei Werke gezeigt, deren Komponisten 1944 in Theresienstadt ermordet wurden.

Eine verstörende Bekenntnisarchitektur, die zum offenen Haus wird, Forderndes und Zugängliches unter einem Dach und ein Programm, das weit in den Stadtraum ausstrahlt, so sieht Serge Dornys ganzheitlicher Ansatz aus: „Kultur, wie ich sie verstehe, ist kein Extra, sondern essentiell für unser Leben“, betont er im Gespräch. Bitter, dass der 1962 geborene Belgier, der 2014 die Leitung der Dresdner Semperoper übernehmen sollte, nach Querelen mit dem dortigen Musikchef Christian Thielemann den Posten gar nicht erst antrat. In Sachsen hätte man einen wie ihn gerade jetzt gut gebrauchen können.

Weitere Infos: www.opera-lyon.com

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