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Regiedoppel. Die belgischen Brüder Jean- Pierre und Luc Dardenne.

© REUTERS

Die Dardenne-Brüder und ihr neuester Film: Hand auf die Haut

Eine junge Ärztin öffnet abends einer Frau die Tür nicht. Am nächsten Tag ist diese tot. In „Das unbekannte Mädchen“ ergründen die Dardenne-Brüder Fragen von Schuld und Verantwortung. Eine Begegnung.

Die Frage, wie man zu zweit Regie führt, erübrigt sich schnell, wenn man den Dardenne-Brüdern gegenübersitzt. Ihre symbiotische Art, die Sätze des jeweils anderen zu vollenden und mit einem Lidschlag zu klären, wer den Vortritt bekommt, um die Antworten dann doch gemeinsam zu kleinen Geschichten auszuweiten, lässt das brüderliche Teamwork als die größte Selbstverständlichkeit der Welt erscheinen. Der Erfolg gibt ihnen recht. Mit sieben ihrer bislang zehn selbst geschriebenen und produzierten Filme wurden sie nach Cannes eingeladen, zwei Mal trugen sie die Goldene Palme nach Hause.

Zu Hause, das ist für Jean-Pierre, geboren 1951, und seinen drei Jahre jüngeren Bruder Luc das belgische Seraing, ein Industrieort bei Lüttich. Hier in der Banlieue wuchsen sie auf, hier spielen alle ihre Filme. Wer sie kennt, dem sind die tapfer malochenden Leute von Seraing, die Migranten, Arbeitslosen, Kleinkriminellen ans Herz gewachsen. Auch ihr jüngstes Werk „Das unbekannte Mädchen“ spielt in Seraing, in einer Arztpraxis an einer Schnellstraße unweit der Meuse. Es ist das stille Drama der Ärztin Jenny, die nach Dienstschluss einer Afrikanerin die Tür nicht öffnet. Am nächsten Tag liegt die junge Schwarze tot am Fluss. Identität unbekannt. Jenni will nur noch eins: herausfinden, wie die Afrikanerin hieß.

Auf Leben und Tod. Der französische Jungstar Adèle Haenel spielt eine Ärztin, die sich schuldig für den Tod einer Frau auf der Flucht fühlt.
Der französische Jungstar Adèle Haenel spielt eine Ärztin, die sich schuldig für den Tod einer Frau auf der Flucht fühlt.

© Temperclay

„Wir sind zu zweit“, sagen die beiden, „und die Stadt ist die Dritte im Bunde.“ Typisch Dardenne: Sie bilden keine verschworene Gemeinschaft, sondern eine offene Zweierbeziehung, einladend, zugewandt, selbst bei der Interviewroutine an diesem Pressetag in Berlin. Jean-Pierres etwas rauer intoniertes Französisch schlägt gerne mal in ein helles Backfisch-Kichern um, Lucs Idiom verrät den lokalen Akzent, und beide legen ein feines Gespür für den Rhythmus des Gesprächs an den Tag. Zwei Jungs (im Fast-schon-Rentenalter), die gerade ihren neuesten Streich aushecken, könnte man meinen. Die Dardennes werden die Moralphilosophen des europäischen Kinos genannt.

Nach eine halben Stunde versteht Luc fast lückenlos Deutsch, was seinen Bruder köstlich amüsiert – eine Frage der Aufmerksamkeit. So ähnlich mag es auch bei ihren einmonatigen, den Drehs vorausgehenden Proben mit den Profi- und Laiendarstellern zugehen. Man probiert an den Originalschauplätzen, ohne Team, nur mit kleiner Kamera, und lässt ein Klima des Vertrauens gedeihen. Die Dardennes, denkt man, müssen gute Gärtner sein.

Messieurs, wie würden Sie ihre Heimatstadt einer Fremden erklären? „Seraing sah lange so aus, als ob die Fabriken in den Gärten der Häuser gebaut worden wären oder umgekehrt die Wohnhäuser in den Fabrikhöfen,“ antworten sie im Duett. „Man wusste nicht, wo das eine aufhört und das andere anfängt.“ Heute sei alles heruntergekommen – was ihrer Liebe zur Stadt keinen Abbruch tut. Wegen der Leute, ihrer Freundlichkeit – und wegen der roten Vergangenheit von Seraing. „Die Arbeiter“, erinnert sich Luc, „hatten eine große Macht.“ Und es gab das, was man heute gelungene Integration nennen würde: Allein 18 Prozent der Bevölkerung waren italienische Gastarbeiter, man ging ins italienische Restaurant oder zum Griechen. „Es hieß immer, wenn es Seraing nicht gut geht, ist ganz Belgien krank.“ Die Solidarität der Serainger hat den Niedergang überdauert, auch davon künden ihre Filme.

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Hier waren sie Kinder, hier entdeckten sie die Welt, hier finden sie bis heute ihre Figuren. Rosetta, Tochter einer Trinkerin, kämpft um Jobs zum Überleben („Rosetta“, die erste Palme 1999). Bruno verkauft sein Kind, erkämpft es sich zurück, im Krieg mit Gangstern („L’enfant“, die zweite Palme 2005). Cyril verliert sein Fahrrad und tut alles, um es wiederzubekommen („Der Junge mit dem Fahrrad“, 2011). Sandra, die Arbeiterin, soll wegrationalisiert werden und hat ein Wochenende Zeit, um ihre Fabrikkollegen davon zu überzeugen, für sie zu stimmen statt für den 1000-Euro-Bonus („Zwei Tage, eine Nacht“, 2014). Sie alle sind Verlierer der Wohlstandsgesellschaft, die sich ihr Recht auf Glück nicht nehmen lassen, Sturköpfe in aussichtsloser Lage. Manchmal helfen die anderen, manchmal nicht. Und der Zuschauer fiebert mit. Die Welt ist die Hölle, aber es gibt so etwas wie Güte.

Simple Stories, das Einfache ist ja oft das Schwerste. Jean-Pierre hat Dramaturgie in Brüssel studiert, Luc Philosophie in Lüttich, bis sie mit Dokumentarfilmen anfingen und eine Firma gründeten. Auch Jenny, die Ärztin, verfolgt wie besessen ihr Ziel, gibt nicht auf, bis sie den Namen der Toten weiß. „Nur wer einen Namen hat, gehört zur menschlichen Gemeinschaft“, sagt Luc. „Das unbekannte Mädchen“ ist auch eine Flüchtlingsgeschichte.

Warum sind alle ihre Helden so obsessiv? „Weil wir selber Sturköpfe sind“, lacht Jean-Pierre, „regelrecht monomanisch.“ Jeder Film eine fixe Idee. Na ja, vielleicht kommt zur peniblen Recherche langsam die Altersmilde hinzu, überlegen sie. Um dann zu erklären, warum im Film Jennys Privatleben der Besessenheit zum Opfer fallen musste. Nicht, dass sie ihr keins gegönnt hätten, aber sie strichen die Szenen, sie lenkten nur ab.

Aus Schweigen entsteht die Wahrheit der Figur

Dass sie sich schuldig fühlt, ist moralisch gesund, betont Luc. Schuld und Schuldbewusstsein, ein Sujet vieler Dardenne-Filme. Was nichts mit Religion zu tun hat, sondern mit Humanismus. Schuld verbindet die Menschen und führt dazu, dass sie sich wie Jenny verantwortlich fühlen. Eben deshalb trifft sie letztlich keine Schuld. Schuldig in „Das unbekannte Mädchen“ werden die anderen, all jene, die etwas wissen über die Afrikanerin, aber nichts sagen.

Das Kino der Dardennes ist immer ein körperliches gewesen. So fängt es auch an in „La fille inconnue“. Die Hausärztin untersucht einen Patienten, horcht die Atemwege ab, Stethoskop auf dem Rücken, die Hand auf der nackten Haut. Wenn sie beim Hausbesuch erfährt, dass der Strom bald abgestellt wird, ruft sie beim Sozialamt an. Die Dardennes zeigen gerne Arbeitswelten, dokumentarisch genau. Weil der Mensch ist, was er tut, sagen sie. Sein Wesen steckt in seinen Gesten, den Handgriffen, der Körpersprache, bei dem Schreiner in „Der Sohn“ (2003) genauso wie bei der gehetzten Rosetta oder Cyrils schnellen Radtouren oder jetzt bei Jenny, die ihre Arbeit oft schweigend verrichtet. Sie misst Blutdruck, fühlt den Puls, sorgt sich um das Leben und ist plötzlich in einen Todesfall verwickelt: Aus dem Schweigen entsteht die Wahrheit der Figur.

Sie verzichten auf die übliche Kinomaschinerie

Die Wahrheit ist konkret. Und Film ist Materie, meint Jean-Pierre. Ein guter Satz, um die Türengeschichte loszuwerden. Immer muss die Bühnenbildnerin am Set an den Türen herumwerkeln, verrät Luc mit wachsender Heiterkeit. Die Kamera muss sich bewegen können, und die Frage, ob die Tür offen oder geschlossen ist und in welcher Richtung sie aufgeht, führt immer wieder dazu, dass die Scharniere versetzt werden müssen. Innenleben, Außenwelt, das Kino setzt sie seit jeher ins Verhältnis.

Auf die übliche Kinomaschinerie samt Filmmusik und Action verzichten die Brüder bis heute. Bloß Stars leisten sie sich inzwischen. Die Dardennes sind die Meister des Sozialrealismus mit Glamourfrauen. Nach Cécile de France in „Der Junge mit dem Fahrrad“ und Marion Cotillard in „Zwei Tage, eine Nacht“ nun die Französin Adèle Haenel als Jenny. Zwei Césars, verhaltenes Temperament, feines Gesicht, etwas zu jung für die Rolle. Aber als Ärztin schaut man ihr gerne zu.

Überhaupt weigern sich die Dardennes, das Stigma des Sozialdramas zu tragen. Realismus gerne, aber Tristesse muss nicht sein. Und was tun, wenn die Genrebezeichnung als Schimpfwort benutzt wird, weil Kino doch Unterhaltung sein soll? „Dann sagen Sie einfach: ,Modern Times’ von Charlie Chaplin war auch ein Sozialdrama - und ziemlich erfolgreich.“ Jetzt kichern sie wieder, die Brüder.

Ab Donnerstag in 12 Berliner Kinos. OmU: b-ware! ladenkino, Brotfabrik, Bundesplatz, Eiszeit, Filmrauschpalast, fsk am Oranienplatz , Hackesche Höfe. Lichtblick, Moviemento. OmenglU: Il Kino

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