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Das Stillleben einer Second-Hand-Buchhandlung

© Imago

Die Bücher 2015: Was wir lesen und schreiben werden

Ein Ausblick ins kommende Literaturjahr, von Kazuaki Takano bis Helmut Schmidt - und wie Bestseller den Umsatz eines ganzen Jahres retten können.

Es ist dann auch in der Literatur zu jedem Jahreswechsel so: Das, was war, scheint ewig lange her, etwa der Deutsche Buchpreis für Lutz Seilers Roman „Kruso“, die Aufregung um Dave Eggers’ „The Circle“ oder die leider nicht so prickelnden Literaturdebatten. Aufregender, als noch einmal das Literaturjahr 2014 Revue passieren zu lassen, ist es, das Literaturjahr 2015 in den Blick zu nehmen, zumindest die Bücher, die da kommen. Bei den Verlagen hält man es sowieso nicht so mit kontemplativen Rückschauen, da geht es immer nach vorn, mit immer neuen (manchmal alten, wiederentdeckten, neu aufgelegten oder neu übersetzten) Veröffentlichungen, die die aktuelle Produktion stets schon wieder alt aussehen lassen: keine Atempause, Bücher werden gemacht! Und weil das so ist, gibt es auch kein klassisches Frühjahr und keinen klassischen Herbst mehr, da wird schon im Januar veröffentlicht, was die Pressen hergeben. (Ach ja, die good old days!). Also lag schon Silvester der „erste internationale Bestseller des Jahres 2015“ in den Buchhandlungen: „Extinction“ des Japaners Kazuaki Takano. Der Roman handelt in seinem Kern von der nächsten Evolutionsstufe des Menschen, vom einem Pygmäenjungen im Kongo, der als Dreijähriger schon unglaubliche Fähigkeiten besitzt (zum Beispiel die Geheimcodes der NSA zu entschlüsseln) und deshalb von der US-Regierung und eben der NSA als Gefahr für die Menschheit angesehen wird und getötet werden soll. Der Stoff dieses schon 2011 in Japan veröffentlichten Romans hat es in sich, nicht nur auf der Bio-Sci-Fi-Ebene, da lohnt die Lektüre; nur „atemlos spannend“ ist „Extinction“ leider nicht, dafür braucht Takano viel zu lange, um seine in den USA, Japan und Kongo spielende Geschichte zu entwickeln. Der Roman dürfte aber auch hier ein Bestseller werden, so wie vielleicht die Bücher internationaler Großautoren, die dieser Tage auf Deutsch erscheinen: Ian McEwans Werther-und-Smells-Like-Teen-Spirit-hafter Roman über eine Londoner Familienrichterin, die in einer Ehekrise steckt und mit einem Urteil einem jungen Zeugen Jehovas zunächst das Leben rettet, „Kindeswohl“; Louis Begleys Long-Island-Gesellschaftskrimi „Zeig dich, Mörder“; und Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“, in dem Frankreich im Begriff steht, zu einem islamistischen Gottesstaat zu werden. „Unterwerfung“ könnte ein erster Aufreger werden, womöglich ein Muss-Buch des Frühjahrs. Dieses lässt sich wiederum gerade im Bereich der deutschsprachigen Literatur in puncto Güte nur schwer einschätzen.

Noch ist nicht raus, ob der Weihnachtsverkauf den Buchhandlungen den Jahresumsatz gerettet hat

Es gibt Neues von Vea Kaiser und Anne Weber, von Leif Randt und Stefan Thomé, von Sibylle Berg und Arno Geiger, von Hans-Joachim Schädlich und Kirsten Fuchs, und ja, viel Gutes hat man bereits von Norbert Scheuers Afghanistan- und Ornithologenroman „Die Sprache der Vögel“ gehört. Man muss also lesen und sich überraschen lassen – oder greift zu Bewährtem:  Der Grass-Verlag Steidl veröffentlicht die „Trilogie der Erinnerung“, wie Günter Grass seine Bücher „Beim Häuten der Zwiebel“, „Die Box“ und „Grimms Wörter“ bezeichnet; eine Trilogie, so Grass weiter, „die, wäre es nicht vermessen, unter dem traditionellen Titel ,Aus meinem Leben‘ stehen könnte“. Der Lenz-Verlag Hoffmann und Campe erinnert noch einmal mit diversen Büchern an den im Oktober 2014 verstorbenen Siegfried Lenz. Und gut passt es da, dass auch von dem nimmermüden, langjährigen Lenz-Freund Helmut Schmidt schon wieder ein Buch veröffentlicht wird. Es heißt „Was ich noch sagen wollte“ und soll laut C. H. Beck Verlag Schmidts „persönlichstes Buch“ sein.

Und es ist dann auch in der Literatur so, und zwar nicht nur zum Jahreswechsel, sondern immer: Das, was neu erscheint, will auch verkauft werden, und da hat es mitunter seinen ganz eigenen Charme, ein Branchenblatt wie den „Buchreport“ zu lesen: „Zündet der Turbo?“ fragte das Blatt kurz vor Weihnachten und „analysierte“ den in der vierten Adventswoche im Vergleich zur dritten Adventswoche rasant gestiegenen Umsatz im Buchhandel. Und hat er schließlich wirklich gezündet, der Buchverkaufsturbo? Das konnte „Buchreport“ bislang nicht sagen. Zumindest ging es „dynamisch im Finale“ zu, aber reichen dürfte es wohl nicht, so die Branchenanalytiker zu Jahresende. Sie hoffen nun auf das in der Regel ebenfalls „lebhafte Buchgeschäft“ zwischen den Jahren, dass vielleicht noch alles hat gut werden lassen.

Und wenn man so zwischen den Jahren oder auch am ersten Januar-Samstag 2015 zum Beispiel in einer gut sortierten Thalia- Filiale wie der im Alexa war, konnten einem wirklich die Augen überquellen: so viel los hier! Und wie schön sie alle sichtbar aufgestapelt oder in Regalen auf Augenhöhe präsentiert waren, die Bücher, vor allem natürlich die Bestseller, die vom „Spiegel“ und „Buchreport“ in ihren Extrafächern und auch die Thriller und Krimis auf den großen Tischen.

Wie es wohl ist, ein Hape Kerkeling zu sein und zu sehen, wie das eigene Buch, die eigene Lebensgeschichte tausendfach an den Mann und die Frau geht? Eine Giulia Enders, deren Verdauungsorgan-Titel „Darm mit Charme“ das meistverkaufte Buch des vergangenen Jahres war? Oder auch ein Philipp Oehmke, der aus seinen „Spiegel“-Artikeln über die Toten Hosen ein Tote-Hosen-Porträt-Buch gemacht hat und es damit prompt in die Top Ten schaffte? Sich selbst und sein Schreiben solcherart vervielfältigt zu sehen, dürfte dem Ego und nicht zuletzt dem Bankkonto nur gut tun. Wer es einmal in die Bestsellerfächer der Top Zwanzig in den Herbstmonaten geschafft hat, bleibt dort meist bis weit nach Weihnachten, da können beispielsweise in der Belletristik noch so viele handelsübliche Krimis und Thriller neu veröffentlicht werden. Man schaue sich nur Robert Seethalers Roman „Ein ganzes Leben“ an, der seit 23 Wochen weit vorn steht, oder auch Lutz Seilers „Kruso“, der es schon vor dem Buchpreisgewinn in die Charts brachte und seitdem in den Top Zehn ausharrt.

Ach, denkt man, man müsste auch mal einen Bestseller schreiben! Vielleicht einen darüber, wie es ist, Bestsellerautor erst zu werden und dann zu sein, vielleicht eine Art Update des Joachim-Lottmann-Bestsellers „Mai, Juni, Juli“, der zwar beliebt, aber natürlich nie ein Bestseller war. Also einen Möchtegern-Bestseller mit dem Titel „August, September, Oktober“, veröffentlicht pünktlich zum Weihnachtsgeschäft.

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