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Nur echt mit der Discokugel: Im Innern der Bar jeder Vernunft

© Xamas/Promo

Die Bar jeder Vernunft wird 25: Tingeltangel mit Charisma

Wie aus Kleinkunst große Unterhaltung wurde: Die Bar jeder Vernunft und das Tipi am Kanzleramt feiern Jubiläum.

Das gibt es nicht oft, dass sich ein Veranstaltungsort in das Gedächtnis des Körpers einbrennt. Doch beim Durchkramen des Gedächtnissen nach ersten Erinnerungen an die Bar jeder Vernunft stellt sich zuerst ein Ganzkörperglühen ein, der Nachhall der Mordshitze, die vor dem Einbau der Klimaanlage im Sommer immer im Spiegelzelt stand.

Die zweite Erinnerung ist ein Bild: das zweier fleischfarbener Hügel vor kunterbunter Komödienstadl-Kulisse. Uiih, das sind die Möpse von Andreja Schneider, braver das pralle Dekolleté der Wirtin Josepha Vogelhuber aus dem „Weißen Rössl“. Und auch dazu hat sich der Körper was gemerkt. Den Krampf der Wangenmuskulatur, der durch ein stundenlanges, verzückt-erstauntes Lächeln entsteht. Das war 1994 die eigene und allgemeine Reaktion auf die Legende gewordene Inszenierung, die zur Renaissance der Benatzky-Operette führte.

Und dann ist da noch der steife Nacken, der sich auf einigen Plätzen beim Versuch einstellt, das unseligerweise von einer eleganten Jugendstilsäule verstellte Bühnengeschehen zu verfolgen. Auch er gehört dazu – seit 25 Jahren.

Zwar hat die Vergnügungsstätte auf dem Parkdeck hinter dem Haus der Berliner Festspiele einst am 5. Juni 1992 aufgemacht, doch die Gründer Holger Klotzbach und Lutz Deisinger, die zehn Jahre später dann auch das größere Schwesterzelt „Tipi“ neben dem Kanzleramt eröffneten, laden schon am kommenden Dienstag zum (nicht öffentlichen) Doppel-Jubiläumsempfang. Als Moderator des zuverlässig auch diesmal von allerlei Prominenz aus Kultur, Politik und Medien besuchten Abends wirkt Götz Alsmann, der dort sonst regelmäßig mit seiner Band gastiert. Die Laudatio hält Ex-Bürgermeister Wowereit, dessen natürliches Habitat die Spiegelzelte während seiner Amtszeit waren und immer noch sind.

Bühne für Künstler aus der Nische der Subkultur

Gründe, die längst nicht nur zu Berliner Institutionen gewordenen Privatbühnen zu feiern, gibt es zuhauf. Nur ärgerlich, dass man ihren Programmmix aus Chanson, Musiktheater und Musical Comedy immer noch mit der despektierlichen Wortkrücke „Kleinkunst“ bezeichnen muss. Kann da bitte mal jemand was Neues erfinden? Allein die bereits im Herbst gestartete opulente Jubiläumsproduktion „Frau Luna“, die bis zum Monatsende ausverkauft im Tipi läuft und ab 11. Januar 2018 wiederaufgenommen wird, zeigt den hier herrschenden Mut zum Camp ebenso wie den Anspruch an Qualität.

Dafür steht auch der Musiker Peter Wilmanns, der als Mitglied des sagenhaft surrealen Jazz-Kabarett-Trios Ars Vitalis 1992 das Eröffnungsprogramm der Bar jeder Vernunft bestritten hat. „Wir saßen minutenlang nur da und machten nichts“, beschreibt er die Show und schildert spaßige Anekdoten, die jeder Bar-Künstler über die improvisierten Anfänge in dem 1912 erbauten Tanzzelt erzählt. Etwa vom wilden Nachtsalon, in dem die bis heute andauernde Zusammenarbeit mit der dort als Sängerin entdeckten Meret Becker begann. Ob die Bar seine Künstlerkarriere geprägt hat? „Aber ja, es ist förderlich für die Karriere und für den Marktwert, dort zu spielen.“ Doch die dort entstandenen Freundschaften, die seien viel wichtiger gewesen.

In der Tat haben die Spiegelzelte einer ganzen Künstlergeneration zu mehr Ruhm und Reichweite verholfen. Dazu gehören die Geschwister Pfister, Cora Frost, Tim Fischer, Georgette Dee, Pigor & Eichhorn, Malediva. Aber auch Comedian Michael Mittermeier, dessen Stand-ups als Nachtsalon-Moderator erst nur zögerlich vom Publikum angenommen wurden, Ina Müller, heute Fernseh- und Gesangsstar und einst als Mitglied des Frauenkabarettduos Queen Bee Stammgast in der Bar.

Als der Ex-Kabarettist Holger Klotzbach und der Theaterwissenschaftler und Kulturjournalist Lutz Deisinger, die sich vorher kurzzeitig als Betreiber des Quartiers (heute Wintergarten) in der Potsdamer Straße versucht haben, ihr Zelttheater gründen, haben sie kein großes Konzept im Sinn. „Wir wollten eine Bühne für Künstler schaffen, die bis dahin nur ein Nischendasein in der Subkultur fristeten“, sagt Lutz Deisinger, der jetzt 59 ist.

Anfang der Neunziger habe es außer dem Lustspielhaus München, das bis heute mehr vom Kabarett geprägt ist, und dem aus der schwulen Trashkultur hervorgegangenen Schmidt Theater, das Corny Littmann inzwischen um zwei Spielstätten erweitert hat und meist mit Hamburger Kiezmusicals bespielt, keine Musiktheater- und Unterhaltungsshows jenseits von subventionierten Theaterbühnen und Musicalveranstaltern gegeben. Inzwischen existieren bundesweit diverse private Unterhaltungsbühnen, in Berlin beispielsweise die ebenfalls Tischgastronomie anbietenden Varietés Wintergarten und Chamäleon, doch alle pflegen unterschiedliche, mal zirzensischer, mal kabarettistischer orientierte Profile.

Das der Bar definiert Deisinger so: „Wir bringen keine Kunstmenschen auf die Bühne, wie es Musicals oder die Blue Man Group machen. Wir machen Menschenkunst. Das dreigestrichene C ist uns nicht wichtig, solange die Künstler Charisma haben.“ Das aktuelle Programm liest sich wie die Bestätigung dieses Satzes: Neben einem internationalen, eher mainstreamigen Act wie „The Cast – Die Opernband“, steht die eigenwillige eidgenössische Jodelqueen Erika Stucky. Die wiederum wird flankiert von Berliner Eigengewächsen wie der fabelhaften A-capella-Formation Muttis Kinder und dem kauzigen Sven van Thom. Sowohl van Thom als auch Muttis Kinder sind in den letzten Jahren immer häufiger in der Bar aufgetaucht. Das entspricht der hauseigenen Philosophie beim Aufbauen junger Talente. Die werden dem Publikum erst vorsichtig an einzelnen Abenden und wenn die Akzeptanz zunimmt, regelmäßiger und länger präsentiert.

"Unterhaltung wollten wir vom Stigma des reinen Kommerzes befreien"

In den neunziger Jahren seien sie die Ersten gewesen, die Künstlern langfristige Gastspiele und damit Produktionssicherheit angeboten hätten, sagt Lutz Deisinger. Von den langfristigen Engagements für Eigenproduktionen wie „Drei alte Schachteln in der Bar“, „Diva gut“, „Die Kellnerinnen, „Cabaret“ und „La Cage aux Folles“ mal abgesehen. „Dadurch wurden wir beispielsweise für die Geschwister Pfister zum Uraufführungsort ihrer Produktionen und so ein deutschlandweiter Impulsgeber.“

Die Vermutung, dass Bar und Tipi programmatisch an die von den Nazis zerstörte deutsche Unterhaltungskultur der Weimarer Republik anknüpfen und mit ihrer nostalgischen Örtlichkeit den gerade im Nachwende-Berlin viel beschworenen Geist der „Goldenen Zwanziger“ ausweiden wollten, lehnt der künstlerische Leiter rundheraus ab. „Gerade Künstler, die mit der Federboa um den Hals Lieder von Marlene Dietrich singen wollten, haben wir massenhaft abgelehnt.“ Trotzdem hat dann 1995 das unvergessene erste Gastspiel des New Yorker Gesangsquintetts Hudson Shad weit vor dem Joseph-Vilsmaier-Film das „Comeback“ der bis dato nur durch den Dokumentarfilm von Eberhard Fechner in Erinnerung gebliebenen Comedian Harmonists losgetreten. Deren „Close-Harmony“-Gesangsshows sind seitdem selbst im deutschen Stadttheater so flächendeckend vertreten wie die „Rössl“-Inszenierungen.

Oder wie es Lutz Deisinger selbstbewusst formuliert: „Es ist unser Verdienst, den Begriff der Unterhaltung vom Stigma des reinen Kommerzes befreit zu haben.“ Und auch wenn die Bar heute finanziell erfolgreicher arbeitet als im Oktober 1992, als das Zelt aus Geldmangel erst mal wieder schließen musste, ist es immer noch der Vermietungsbetrieb, der die Kunst finanziert. Eine Kunst der Unterhaltung übrigens, die auch dank der 1993 etablierten Schirmherren und -herrinnen, zu denen Wim Wenders, Maren Kroymann, Alfred Biolek und Peter Raue gehören, von Beginn an angesagt war.

Ja, die Zelte sind samt Machern, Künstlern und Publikum saturierter geworden. Den frechen Anfangszauber, den gibt’s nun mal nur anfangs. Und doch sind sie immer wieder für eine hinreißende Überraschung gut. Für eine „Frau Luna“, für eine Entdeckung wie Vladimir Korneev, ein junger Chansonnier, der im Februar auftritt. Egal, ob der das dreigestrichene C beherrscht, Hauptsache Charisma!

Am 21. Januar, Einlass ab 23.30 Uhr, lebt im Tipi am Kanzleramt in einer Sonderausgabe der Nachtsalon wieder auf. Moderation: Ades Zabel und Gustav Peter Wöhler.

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