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Studio einer Unbehausten. Die französische Künstlerin Emanuelle Lainé nennt ihre Installation "Es scheint, als ob sich die Grundlagen des Seins ändern".

© Biennale

Die 13. Lyon-Biennale: Der Moder der Moderne

Wandel einer Stadt durch Kunst und Kultur: Die Biennale von Lyon seziert das Leben in der Industriegesellschaft.

Eine gigantische grüne Stellwand baut sich als Erstes vor dem Besucher auf, er muss sie umrunden, um auf weitere zu stoßen und schließlich im Inneren des Labyrinths vor stählernen Kugeln zu landen. Höchst kryptisch das alles. „Enigma“ hat der chinesische Künstler Liu Wei sein Werk genannt, eine Metapher für die in seinem Land aus dem Boden sprießenden Megastädte, die ihre überforderten Bewohner im besten Fall ratlos machen. „La vie moderne“, so lautet der Titel der 13. Biennale von Lyon.

Liu Weis Installation passt perfekt als Ouvertüre zu dieser Biennale. Das moderne Leben, wie es Walter Benjamin beschrieb, spielte sich schließlich in den Metropolen ab. China hat den Sprung in das neue Zeitalter eruptiv erlebt, wenn auch etliche Jahrzehnte später. Die von Liu Wei errichteten Barrieren erinnern physisch daran, wie sehr der rasante technische Fortschritt, die veränderten Formen des Zusammenlebens den Menschen verstören, als wäre er in einem Labyrinth mit obskuren Objekten. Mit ihrem verbauten Entree weist die Biennale den Besucher zugleich ab und zieht ihn hinein. Widersprüchliche Gefühle, konträre Setzungen sind ihr Prinzip – wie bei der Moderne.

Die Biennale steht heute für den Kultur-Jetset fest auf dem Reiseplan

Was aber umfasst der Begriff konkret? Sind wir nicht schon lange durch damit, seit den post-modernen Achtzigern, dem deklarierten Ende der großen Erzählungen, den in der zeitgenössischen Kunst abservierten Klassikern? Thierry Raspail will es wissen, der Direktor des Musée d’Art moderne in Lyon, der 1991 die Biennale erfand. Seitdem lädt er alle zwei Jahre einen anderen Kurator in die zuvor eher für Kulinarisches bekannte Stadt im Süden Frankreichs ein und lässt ihn ein vorgegebenes Thema bearbeiten. „La vie moderne“, das darf alles sein, der große Inspirator aber bleibt Raspail.

Mit seiner Methode hat der Museumsdirektor Lyon die wichtigste zeitgenössische Ausstellung in Frankreich beschert und seine Stadt gleich hinter Paris als Kunstzentrum gerückt. Für den Kultur-Jetset steht die Lyon-Biennale deshalb ebenso fest auf dem Plan wie Venedig und Istanbul, die jeweils im gleichen Jahr stattfinden. Damit die Truppe ihr Reiseprogramm schafft, werden Shuttleflüge zwischen dem Bosporus und der Saône gechartert. Völlig verrückt wird es wohl in zwei Jahren, wenn zum Pflichtprogramm auch noch die Documenta gehört, die zugleich in Kassel und in Athen stattfindet, außerdem die Skulpturenprojekte in Münster. Eine solche Akkumulation gereicht nicht immer zum Besten der Kunst, Machern wie Besuchern droht Ermüdung.

Der Boom der Biennalen nahm in den neunziger Jahren seinen Anfang mit der Entdeckung der Kunst als Motor zur Stadtentwicklung. In Lyon aber verbanden sich das starke Ego eines Museumsdirektors, der für seine in einer Shoppingmall untergebrachte Galerie mehr Strahlkraft brauchte, und die Ambitionen eines ehrgeizigen Bürgermeisters, der die Schmuddelecken gleich hinter dem Bahnhof, wo Saône und Rhône zusammenfließen, loswerden wollte. Wie so viele Städte hat Lyon damit seine Wasserseite und die ehemaligen industriellen Standorte als Ressource entdeckt.

Die Schmuddelecken Lyon werden durch die Kultur verdeckt

Wer dort am Ufer entlanggeht, findet jetzt ein völlig verändertes Quartier vor, bestehend aus hipper neuer Architektur, in denen Kreativbüros und Fernsehsender untergebracht sind, und markanten älteren Gebäuden wie das ehemalige Zuckerlager, La Sucrière, die nun als Ausstellungshallen dienen. Die Lyon-Biennale hat hier neben dem Musée d’Art moderne ihren zweiten Standort. Auch das nahe gelegene Gefängnis wurde nicht abgerissen. Es wird in eine Dependance der Universität umgewandelt. Womit Victor Hugos berühmter Satz, nachdem mit jeder geschlossenen Schule ein Zuchthaus sich öffnet, seine glückliche Umkehrung erfährt. Für die Biennale wurde außerdem das gerade eröffnete Musée de la Confluence einbezogen, das genau auf der Landzunge der beiden zusammenfließenden Ströme steht und sich den Naturwissenschaften widmet. Der modernistische Bau von Coop Himmelblau hat seine Kosten verfünffacht und landete bei 300 Millionen Euro.

Die Stadt setzt massiv auf Prestigeobjekte in der Kultur. Wenn Paris mit Anish Kapoor punktet und ihn in den Gärten von Versailles seine Spiegelskulpturen aufstellen lässt, so kann Lyon das auch, vielleicht noch ein bisschen cleverer. Während die Arbeiten des indischen Bildhauers in der Hauptstadt antisemitischen Schmierereien durch orthodoxe Katholiken ausgesetzt waren, die er nun per Gerichtsbeschluss selber entfernen muss, darf Kapoor in Lyon eine Ikone der Moderne bespielen – das von Le Corbusier erbaute Kloster La Tourette, dreißig Kilometer vor den Toren der Stadt. Vorteil Lyon: Hier schließt ihn die Kirche in ihre Arme. Die Strenge der Betonarchitektur schmeichelt den abstrakten Skulpturen, ein sinnliches wie spirituelles Erlebnis.

Solch verfeinerte Genüsse liefert die von Ralph Rugoff eingerichtete Biennale an ihren beiden Hauptstandorten kaum. Der Direktor der Londoner Hayward-Galerie lud für seine Ausstellung Künstler ein, die mit Zuspitzungen, Konfrontationen, Ironie arbeiten. Das Weihevolle eines sakralen Ortes, der elegische Minimalismus eines Kapoor findet sich hier nicht. Stattdessen werden die verschiedenen Facetten des modernen Lebens durchdekliniert und ad absurdum geführt: Technisierung, Beschleunigung, Verelendung, Unbehaustheit.

Rugoff kann zwar erklärtermaßen mit dem Begriff Moderne nicht viel anfangen, aber seine Teilnehmer arbeiten sich sichtbar an ihren Erscheinungen ab. Mike Nelson zeigt die Grenzen einer mobilen Gesellschaft auf. Er sammelte auf der Autoroute 7, die quer durch Lyon führt, die Reste zerfetzter Reifen auf und inszeniert sie als Memento auf edlen Sockeln. David Shrigley nimmt dagegen in seinem satirischen Zeichentrickfilm die Position des Fahrers ein. Wie in einem Videospiel sitzt er am Steuer und rast mit Höchstgeschwindigkeit eine kurvige Straße entlang. Die Hilferufe von Passanten ignoriert er, ein auf dem Asphalt liegendes Baby wird gerade noch umkurvt. Der Brite bezeichnet seinen Beitrag als eine „Revision der Geschichte vom guten Samariter“. Heute würde keiner mehr anhalten, um einem von Straßenräubern überfallenen Reisenden zu helfen, glaubt er.

Hier zeigt sich, wie gefährlich für die Kunst die politische Vereinnahmung ist. Auf aktuelle Ereignisse reduziert, verlieren sie ihre Aussagekraft. So scheinen die gegenwärtigen Anstrengungen der europäischen Länder, die vielen Flüchtlinge aus den Krisengebieten aufzunehmen, Shrigleys pessimistische Sicht gerade Lügen zu strafen. Auch die auf ein Pressebild zurückgehenden Skulpturen von Andra Ursuta wirken nur auf den ersten Blick überholt: zwei Roma-Frauen, die ergeben auf ihre Abschiebung zurück nach Rumänien warten. Die Bildhauerin zog ihren Figuren Rettungswesten über, an denen Münzgeld hängt.

Kader Attia, Camille Henrot - die Künstler zeichnen ein pessimistisches Bild der modernen Gesellschaft

Die Künstler der 13. Lyon-Biennale zeichnen ein pessimistisches Bild vom modernen Leben. Kader Attia, der Spezialist für Vernarbungen ob von Kriegsverletzungen oder Stammesritualen, spürt diesmal mentalen Versehrtheiten nach. Er hat einen Parcours aus 18 Arbeitsplätzen angelegt, auf deren Schreibtischen jeweils ein Bildschirm steht, der Statements von Psychologen, Musikern, Ethnologen, Historikern wiedergibt. Aus der rationalen Struktur des Großraumbüros quillt die menschliche Psyche in ihrer Unberechenbarkeit hervor. Die entfremdete Gesellschaft lässt sich nicht heilen.

Camille Henrot mokiert sich in ihrer Installation über diese Hilflosigkeit. Eine riesige Ohrmuschel mit Telefontastatur persifliert all jene Hotlines, die sich als Ratgeber preisen. Zugleich erteilt die Französin eine Absage an alle Barmenden, die sich von der Kunst Antwort erhoffen. „La vie moderne“ kann heute nur noch eine Geschichte der Enttäuschungen sein. Es gibt keine Helden der Moderne mehr. Die Heroen von einst dienen nur noch als Stichwortgeber oder Staffage wie für Anish Kapoor, dessen Skulpturen im Ambiente von Le Corbusier ihren endgültigen Ritterschlag erfahren.

Bis 3. 1.2016; www.biennaledelyon.com

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