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Philipp Talbott und Étienne Dupuis bei der konzertanten Aufführung von "Dinorah" am Mittwochabend in der Philharmonie.

© Bettina Stöß/Deutsche Oper

Deutsche Oper Berlin: Eine Ziege als Opernheldin

Giacomo Meyerbeer war der größte Komponistenstar des 19. Jahrhunderts. Heute ist er fast vergessen. Dem will die Deutsche Oper Berlin nun abhelfen – und präsentiert seine opéra comique „Dinorah“. Mit einem gehörnten Paarhufer in der Titelrolle.

Eine Ziege als Protagonistin! Das muss man sich erst einmal trauen. Daniel Francois Esprit Auber hatte mit „La Muette de Portici“ einen Riesenerfolg eingefahren, mit einer Oper, deren Titelheldin stumm ist. Warum also, mag sich Giacomo Meyerbeer gedacht haben, sollte nicht auch ein gehörnter Paarhufer die Gunst der Massen erringen können? Für die Uraufführung von „Dinorah oder die Wallfahrt nach Ploermel“ 1859 an der Opéra Comique ließ er die von seinen Librettisten „Bellah“ getaufte Ziege eigens von einem Clown des Pariser Cirque d'Hiver abrichten.

Ziemlich skurril nimmt sich auch das übrige Personal des Stückes aus, das in der Bretagne spielt: eine Wahnsinnige, ein Dorfdepp und ein Bariton, der sich von einem zwielichtigen Wahrsager auf Schatzsuche schicken lässt. Die Ziege fungiert dabei sowohl als Botin des Magischen in der zentralen Gewitterszene wie auch als running gag, wenn der Klang seines Glöckchens den drei Hauptdarstellern immer wieder den Weg durch die groschenromanhafte Handlung weisen muss.

Die Deutsche Oper will eine Meyerbeer-Renaissance in Gang setzen

Im Gegensatz zu den hochdramatischen Werken Meyerbeers war seiner „Dinorah“ nur ein kurzer Erfolg beschieden. Mit „Robert, le diable“, „Les Huguenots“ und „Vasco da Gama“ (früher „Die Afrikanerin“ genannt) wurde er dagegen zum Begründer eines eigenen Genres, nämlich der Grand Opéra. Als erster Gesamtkunstwerker der Musiktheatergeschichte verknüpfte Meyerbeer in diesen Stücken private Dramen mit konkreten historischen Ereignissen – und setzte die Zuschauer zudem durch pompöse Ausstattungen sowie nie dagewesene technische Bühneneffekte in Erstaunen. Für mehrere Komponistengenerationen wurde die Grand Opéra zum Vorbild – oder zum Hassobjekt.

Erst um 1900 begann Meyerbeers Stern zu verblassen. Die Kulturpolitik der Nationalsozialisten sorgte dann ab 1933 dafür, dass die Opern des in Berlin geborenen Weltbürgers jüdischen Glaubens vollständig aus den Spielplänen getilgt wurden.

Mit einem über mehrere Spielzeiten gestreckten Themenschwerpunkt will die Deutsche Oper nun eine Meyerbeer-Renaissance anstoßen. „Dinorah“ machte mit einer konzertanten Aufführung in der Philharmonie am Mittwoch den Anfang, bis 2017 sollen „Robert, le Diable“, „Les Huguenots“ und „Vasco da Gama“ als szenische Produktionen herauskommen. Bei einem flankierenden Symposium wurden seit Montag intensiv die Probleme diskutiert, die sich wegen der verworrenen Quellenlage für eine wissenschaftlich fundierte Werkausgabe ergeben. Seit 20 Jahren wird an ihr gearbeitet. Allein von „Dinorah“ existieren sieben Varianten, aber keine autographe Partitur.

Das Orchester der Deutschen Oper unter Leitung von Enrique Mazzola spielt betörend klangschön

Ihren ersten Praxistest konnte die kritische Neuedition der 1859er Urfassung jetzt also in der  Philharmonie bestehen. Unter der befeuernden Leitung von Enrique Mazzola gelang eine  exemplarische Interpretation, betörend klangschön gespielt vom Orchester der Deutschen Oper, höchst lebendig dargeboten von den Solisten, die mit Spaß am Spiel aus der Konzertsituation eine halbszenische Aufführung machten. Überzeugend arbeitet der Dirigent in der Ouvertüre die klangliche Verschränkung von Geistersphäre und ländlicher Idylle heraus und beweist auch sonst ein feines Gespür für die poussierlichen Details der Partitur. Philippe Talbot ist ein abergläubischer Trottel mit leuchtendem Tenor und komödiantischem Talent, Étienne Dupuis ein verliebter Hirt mit kernigem Bariton. Und Patrizia Ciofi schwingt sich zur Begeisterung des Publikums immer wieder aus angenehm weicher Mittellage bruchlos in die höchsten Koloraturhöhen empor.

Meyerbeers melodischer Erfindungsreichtum beeindruckt, die Instrumentation ist gewissenhaft gearbeitet, kurzweilig ziehen die drei Aufführungsstunden vorüber. Nur wer sich vergegenwärtigt, dass 1859 in Paris auch Charles Gounods „Faust“ uraufgeführt wurde, muss sich eingestehen, dass vieles in „Dinorah“ doch arg konventionell und altbacken komponiert ist. Über eine simple Märchenromantik im Stil von Boieldieus „Dame blanche“ geht die musikalische Charakterisierung nie hinaus, ganz zu schweigen von einer  psychologischen Ausleuchtung der zwiegesichtigen menschlichen Seele.

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