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Die Welt als Abenteuerspielplatz. Ein Klettergerüst des dänischen Designers Jacob Dahlgren von 2011.

© Wanas Konst

Design für Kinder: Revolution der Kleinen

Pippi und Lego: Die Nordischen Botschaften zeigen Skandinaviens Pionierarbeit am Kinderkosmos.

Von Caroline Fetscher

Unerhörtes geschah da auf der Stadtbrache, es war skandalös. Kinder bastelten mit Brettern, Ästen, Metall und Ziegelsteinen. Sie bauten Hütten, vergnügten sich mit Matsch und Wasser, kletterten auf Bäume und buken Pfannkuchen am offenen Feuer. All das auch noch im Beisein duldsamer Erwachsener, die gelegentlich halfen. Im August 1943 war am Rand von Kopenhagen ein „Skrammellegepladsen“ eröffnet worden. Das dänische Wort bedeutet so viel wie Gerümpelspielplatz oder Trödelspielplatz.

Aus Rücksicht auf Nachbarn in der Sozialsiedlung, die lieber eine Grünanlage mit dem Schild „Betreten verboten“ gesehen hätten, wurde der erste Abenteuerspielplatz der Welt, entworfen von zwei Landschaftsarchitekten, mit einem Lehmwall umgeben. In Deutschland etablierte sich das Konzept in den 70er Jahren in der offenen Kinder- und Jugendarbeit.

Kaum eine Reform im Umgang moderner Gesellschaften mit Kindern ist denkbar ohne die Impulse der skandinavischen Avantgarde, die Courage ihrer pädagogischen Pioniere. Illustriert wird das durch die Ausstellung „Century of the Child“ im Felleshus der Nordischen Botschaften in Berlin, inspiriert von der gleichnamigen Ausstellung 2012 im New Yorker Museum of Modern Art. Aidan O’Connor, eine der New Yorker Kuratorinnen, verantwortet gemeinsam mit Elna Svenle, der Leiterin des Museums Vandalorum in Schweden, die Berliner Schau, zu der ein reich bebilderter und informativer Katalog gehört.

Jahrhundert des Kindes

Neue Sphären für die Kindheit erarbeiteten skandinavische Architekten und Stadtplaner, Möbeldesigner und Spielzeughersteller, Kinderbuchautoren, Pädagogen, Soziologen. In Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden entwickelte sich ein Kinderkosmos, dessen Ideen und Produkte sich über die halbe Welt ausbreiten sollten.

Erstes Schlüsseldatum war das Jahr 1900, als die schwedische Pädagogin Ellen Key, ihrer Zeit weit voraus, am Neujahrstag ein Manifest veröffentlichte: „Das Jahrhundert des Kindes“ – es leiht der Ausstellung den Titel. 1900 markierte den Anbruch des letzten Jahrhunderts vor der Jahrtausendwende, den Aufbruch in ein besseres, aufgeklärtes Zeitalter. In dem Jahr erschien Sigmund Freuds umwälzende „Traumdeutung“, und auch Ellen Key ging es um die Psyche. Die erste Hälfte ihres Werks ist eine Alptraumdeutung von Kindheit als Lebensphase voll Zwang, Zurichtung und Ausbeutung. Im zweiten Teil forderte sie Konsequenzen: Elternhäuser und Schulen sollten gewalt- und angstfrei werden, Selbstvertrauen vermitteln und das spielerische Erkunden der Umwelt erlauben. Beeinflusst war Key, die nicht frei war von einer Neigung zu nordischer Naturideologie, auch von ihrem Landsmann Carl Larsson. Sein Kunstband „Das Haus in der Sonne“ zeigte Aquarelle der unkonventionell bunten Wohnräume seiner Familie mit unbekümmert spielenden Sprösslingen – wie ein Vorausecho auf Astrid Lindgrens Bullerbü.

Erziehung und Architektur

Wenn man sie lässt, war Key überzeugt, sind Menschen von klein auf neugierig, empathisch, kooperativ. „Niemand hasst von Geburt an jemanden aufgrund seiner Hautfarbe, seiner Herkunft oder seiner Religion“, zitierte Barack Obama gerade Nelson Mandela, und sein Tweet wurde Millionen Mal geteilt. Um 1900 teilten allenfalls sozialistische Reformerkreise solche Erkenntnisse. Brachial unterbrachen zudem der Nationalismus und Militarismus des Ersten Weltkriegs die Reformansätze, ihr nächster großer Schub kam in der Zwischenkriegszeit.

1930 gründete sich in Island die Kooperative „Solheimar“ für sozial schwache Kinder, 1936 wurde Alva Myrdals Buch „Riktiga Leksaker“ („Reale Spielsachen“) in ganz Skandinavien ein Bestseller. Einen Meilenstein der Architektur stellt die 1938 errichtete, dänische „Skolen ved Sundet“ des Architekten Kaj Gottlob dar, in deren ovalem Foyer eine Weltkarte den Boden schmückt. Schulen mit Atelierfenstern, Gärten und Sonnenterrassen – faszinierende Fotografien finden sich im Felleshus – erregten auch zunächst Entrüstung, Schule, hieß es, sei doch kein Vergnügungspalast. Erst mit dem Siegeszug der skandinavischen Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg gedieh die Akzeptanz des neuen Kinderkosmos.

Pädagogik im Kinderzimmer

1945 war ein weiteres Wendedatum. Da tauchte Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ auf, und das autonome, elternlose Mädchen begeisterte nicht allein Kriegswaisen. Parallel erfand Tove Jansson in Finnland die „Mumins“, ein skurriles Trolltrüppchen, das sich indirekt mit der Düsternis der jüngsten Vergangenheit auseinandersetzte. 1945 auch gelangte das schwedische Brio-Spielzeug auf den Markt, kombinierbare Holzbausteine und Figuren, unverkennbar die Vorläufer von Playmobil. Vollends universell wurden die 1952 zunächst aus Holz gefertigten Lego-Steine aus Dänemark, wo „leg godt“ „spiel gut“ bedeutet. Mit Lego ließen sich im Spiel Welten bauen, und selbstverständlich finden sich Legosteine in der Ausstellung.

Mitte der 1950er Jahre entdeckte IKEA den Sinn für kindspezifisches Mobiliar. Hocker, Tische, Spielzeug zogen in die Kataloge ein. Zunehmend demokratisch, unhierarchisch, egalitär wollte die moderne Familie sein. 1968 richtete das Moderna Museet in Stockholm ein Riesenevent für Kinder aus. „The Model“ war der symbolische Entwurf des dänischen Künstlers Palle Nielsen für eine kindgerechte Gesellschaft. Sogar Schwedens Minister für Erziehung, der spätere Regierungschef Olof Palme, tobte mit seinen Söhnen in der anarchischen Raumlandschaft aus Klettergerüsten, Schaumstoffkuhlen, Rutschen, Schaukeln und Wasserfällen.

1974 war Schweden das erstes Land der Welt, das Elternzeit für Väter anbot, 1979 das weltweit erste, in dem das Recht auf gewaltfreie Erziehung Gesetzestext wurde, die anderen skandinavischen Ländern folgten bald; Deutschland im Dezember 2000.

Unaufdringlich, licht und freundlich inszeniert das Felleshus die Spuren der skandinavischen Kindheitsrevolution, ihre Spielsachen, Möbel, Buchcover, Fotografien. Der Besuch ist wie ein Ausflug nach Skandinavien, auch weil das sensationelle Gebäude zu den ästhetisch und kommunikativ durchdachtesten Skulpturen Berlins zählt.

Nordische Botschaften, bis 22.10., Mo–Fr 10–19 Uhr

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