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Kultur: Der Zauberkünstler

Die Berliner Galerie Max Hetzler zeigt Ernesto Neto in einer Doppelausstellung

Es gibt Momente, in denen alles möglich scheint. In solch einem Moment fängt die Wahrnehmung auf einmal zu schlingern an, verfliegt plötzlich jede Sicherheit und an ihre Stelle treten Illusionen, Traumbilder, Verwandlungen. Dann sieht man Blumen, wo keine Blumen sind; schaut auf Berge und Täler und Inseln, obwohl das gar nicht sein kann. Schon aus praktischen Gründen nicht, denn der Raum, in dem sich diese Verwirrungen abspielen, ist nun mal unzweifelhaft ein Galerieraum.

Ernesto Neto ist ein Künstler, der zauberhafte Gegenstände herstellt. Und das ist wortwörtlich zu verstehen. Seinen Installationen wohnt eine Magie inne, die man nur sehr selten antrifft. Er lässt den Betrachter Dinge erkennen, die einfach nicht da sind – und gleichzeitig kann man nicht behaupten, dass er ihn auf irgendeine Weise in die Irre führt. Netos Kunst hat mit Sinnestäuschungen und ähnlichen Taschenspielertricks nichts zu tun. Im Gegenteil: Er präsentiert sein Handwerkszeug vollständig, legt sein Material offen vor einem aus, verbirgt nichts.

In den beiden Galerien von Max Hetzler sind es in diesem Fall Tausende und Abertausende von kleinen Schleifen aus Kunstfaser in den Farben Rosa, Orange und einem hellen Braunton. Diese Schleifen hat Neto zu großen „Teppichen“ zusammengeflochten und über Aufbauten aus weichem Schaumstoff gebreitet. Dieser Unterbau ist jeweils unterschiedlich hoch, weist an manchen Stellen Beulen und Höcker auf, außerdem hat Neto ihm Umrisse verpasst, die ein wenig an Plastiken von Hans Arp oder ältere Gemälde von Imi Knoebel erinnern. Auch nehmen die Gebilde ziemliche Ausmaße an: In der Zimmerstraße stellt Hetzler zwei Werke aus, die drei Meter breit, fünfzig Zentimeter hoch und bis zu sechs Meter lang sind; die Arbeit in den S-Bahn-Bögen an der Holzmarktstraße ist noch um einiges ausladender und erhebt sich bis auf eine Höhe von ungefähr ein Meter fünfzig.

In der Galerie an der Holzmarktstraße kommt im Übrigen noch eine weitere sinnliche Dimension hinzu: Wie schon bei früheren Installationen hat Neto hier fünf verschiedene Gewürze mit in den Unterbau eingearbeitet, so dass diverse Düfte die kleine Halle erfüllen. Das sind, wenn man so will, die Grundlagen der Arbeiten von Ernesto Neto. Und dann schlägt das Ganze um, und beginnt zu oszillieren.

Es ist, als würde ein Element von einem Augenblick zum nächsten seinen Aggregatzustand ändern. Die chemische Zusammensetzung ist immer noch dieselbe, nur die äußere Gestalt wird eine andere. Man könnte das auch mit Lyrik vergleichen, wo sich während des Lesens Metamorphosen ereignen und Worte und Sätze zu inneren Bildern werden, die aus unbewussten Schichten an die Oberfläche aufsteigen. Mit einem Mal sieht man tatsächlich Landschaften, Inseln, Blumenblüten in den wildesten Farbkombinationen: Zum Rosa, Orange und Hellbraun gesellen sich alle erdenklichen Grüntöne, Graustufen und Erdfarben. Die Eindrücke und Empfindungen springen hin und her, es flirrt und sirrt wie an einem heißen Tag in der umbrischen Macchia.

Das passiert bei Neto auch in anderen Medien. In der Zimmerstraße präsentiert Max Hetzler eine Fotoarbeit, die aus mehreren Bildern besteht, allesamt Aufsichten auf ein einfaches Straßenpflaster mit vielen kleinen, kreisförmig verlegten Steinen, wie man es überall in der Welt vorfindet. Den entscheidenden Drall erlangen die Fotos durch den beigegebenen Titel, der wie so oft bei Neto beinahe ein eigener kurzer literarischer Text ist. Er lautet: „The information of the skin moves through cells communication. They say it happens through the protein dance“. Kaum hat man dies gelesen, bemerkt man die Bewegung auf den Fotos, die eine Verbindung zur Dynamik von Proteinen schlagartig plausibel erscheinen lässt.

Ernesto Neto, 1964 in Rio de Janeiro geboren, zählt zu jenen Künstlern aus Schwellenländern, bei denen sich manchmal der Verdacht aufdrängt, sie seien die typischen Kuratoren-Künstler: Auf allen wichtigen Ausstellungen, Biennalen und Festivals vertreten, weithin bekannt, dankbar herumgereicht, doch trotz des Ruhms wenig erfolgreich, wenn es um den Marktwert geht. Und so war auch Neto überall, wo Ausstellungsmacher gerne ihre Weltläufigkeit demonstrieren. Vor drei Jahren hat er für sein Heimatland auf der Biennale von Venedig den brasilianischen Pavillon ausgestattet, er hatte Einzelausstellungen im Hirshhorn-Museum in Washington, in der Kunsthalle Basel, im Moca in Los Angeles, war beteiligt an Ausstellungen in Tokio, Helsinki, Paris, Barcelona und Berlin, wo er anlässlich der Schau „Die anderen Modernen“ im Haus der Kulturen der Welt. Hier zeigte er eine seiner von der Decke hängenden, mit Gewürzen gefüllten Textilien-Installationen. Doch im Unterschied zu vielen anderen Künstler-Kollegen ist Neto auch auf merkantiler Ebene äußerst erfolgreich: Zwischen 40000 und 50000 Dollar kosten die Arbeiten bei Hetzler, die Fotografien schlagen mit 20000 Dollar zu Buche. Und wer an eine Erwerbung denkt, sollte sich beeilen: Die große Installation wurde bereits verkauft, eine andere ist schon reserviert.

Galerie Max Hetzler, Zimmerstraße 90/91 und Holzmarktstraße 15-18 (S-Bahnbogen 48), bis 8. Mai; Dienstag bis Sonnabend 11–18 Uhr.

Ulrich Clewing

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