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Kultur: Der verlorene Sohn

Geschlossene Zweierbeziehung: „Le fils“ von Jean-Pierre und Luc Dardenne

Wir sind ihm nah, beängstigend nah. Kleben ihm im Nacken, schauen ihm über die Schulter, durch diese dicken Brillengläser, die die Welt nur verschwommen erkennen lassen. Man sieht alle Einzelheiten, die Hautunreinheiten, den Schweißfilm auf der Haut, den Fettglanz im Haar. Sieht, wie das Hemd knittert, wie der Körper weich und warm wird. Doch wie dieser Mensch tickt, warum er handelt, wie er handelt, das kann man nicht erkennen. Zu nah.

Olivier ist Lehrmeister in einer Schreinerwerkstatt für schwer erziehbare Jugendliche. Wir sehen, dass er Rückenschmerzen hat, immer einen Ledergurt um die Hüften tragen muss, abends auf dem Boden liegt und Übungen macht. Wir sehen, wie er sich eine Tütensuppe kocht. Wir sehen, wie er die Jugendlichen einweist, ihnen erklärt, wie man ein Holz vom anderen unterscheidet. Und wir sehen, dass er an einem der Jugendlichen besonderes Interesse findet, ihn in die Werkstatt aufnimmt, ihm heimlich folgt. Warum er das tut, sehen wir nicht. Zu nah.

Doch früh ahnen wir, was Olivier mit diesem Jungen verbindet. Wir ahnen, welche Lebenskatastrophe ihn von seiner verbitterten Frau trennt. Wir ahnen, warum er den Kontakt zu den Kollegen nicht mehr findet. Und irgendwann wissen wir: Der Junge, der da neu in Oliviers Werkstatt kommt und seinen Lehrmeister nicht kennt, hat ein Verbrechen begangen, vor vielen Jahren. Und der Lehrmeister könnte plötzlich der Rächer sein.

Aber warum handelt Olivier so, wie er handelt? „Niemand würde das tun“, sagt Oliviers Frau einmal, als ihr die Wahrheit dämmert. „Ich weiß“, ist die Antwort. „Warum tust du es dann?“ „Ich weiß es nicht.“ Wir können diesen Menschen, dem wir so nah gekommen sind, nicht einschätzen. Und daraus zieht der Film seine Spannung.

Die belgischen Regisseure Jean-Pierre und Luc Dardenne sind mit wenigen Filmen so etwas wie die Existenzialisten der verlorenen Existenzen geworden. Sie drehen ohne viele Worte, aber mit archaischer Wucht. Schleichen sich mit der Kamera um Ecken, verharren minutenlang in banalen Einstellungen, nutzen keine Musik, dafür wacklige Handkameras. Ihre Einstellungen geben keinen Kommentar, legen keinen Sinn in das, was sie erzählen. Aber sie legen nahe, dass jeder Moment entscheidend ist.

Ihre Filme, es sind drei nach über 60 produzierten Dokumentarfilmen, konzentrieren sich auf wenige Figuren. „Das Versprechen“ (1996) zeigte einen Erwachsenen, der Kind geblieben ist, einen Schweigsamen, fast autistisch Verschlossenen. „Rosetta“, ihr großer Erfolg in Cannes 1999, zeigt eine jugendliche Kämpferin, ein sperriges, widerständiges Kind, das sich nicht abfinden möchte mit der Scheißwelt, in der wir leben. „Le fils“ koppelt gleich mehrere dieser Motive: den verschlossenen Einzelkämpfer, den Außenseiter, der die Sprache zur Welt nicht findet, und das frühreife Kind, das im Gesicht noch die kindliche Weichheit trägt und doch schon abgebrüht und erwachsen ist.

Olivier Gourmet hat im vergangenen Jahr in Cannes den Preis für den besten Hauptdarsteller errungen: zu Recht. Sein Spiel, seine stoische, undurchdringliche Ruhe hält die Spannung bis zum Schluss, trägt auch durch die Konfrontation mit dem pubertären Trotz des jungen Morgan Marinne. Wie diese beiden einander umkreisen, die Stufen zwischen Distanz und Nähe austesten, wie Vertrauen entsteht aus Kleinigkeiten, ist unendlich exakt beobachtet. Es ist ein Psychothriller, der um das Schwierigste kreist: Schuld und Vergebung. Wie schreiben die Brüder Dardenne in ihren Arbeitsnotizen? „Der Film heißt ,Der Sohn’. Er könnte auch heißen ,Der Vater’.“

Filmbühne am Steinplatz, fsk und Hackesche Höfe (alle OmU)

Christina Tilmann

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