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Dekonstruktion am Samstagabend. „OST“ wird per Kran abmontiert.

©  Carstensen/dpa

Der Schriftzug „OST“ und seine Bedeutung: Ein Coup von Castorf

Die drei Buchstaben „OST“ waren ein starkes Zeichen. Nun sind sie verschwunden. Es wird klar: Die neue Volksbühne wird mit der bisherigen nur das steinerne Mauerwerk gemeinsam haben. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Udo Badelt

Jetzt geht es also los. Als die Titanic sank, brach sie in zwei Teile, das Heck richtete sich noch einmal senkrecht auf und verharrte in dieser Stellung mehrere Minuten lang, bevor es unterging. In diesem Stadium befinden wir uns jetzt. Der Tanker der Volksbühne, er strahlt in dieser Woche noch einmal so hell, dass es blendet, doch die Desintegration des Schiffskörpers hat schon längst begonnen.

Am vergangenen Samstag, während der vorletzten Vorstellung von „Die Brüder Karamasow", entfernte ein Kran den Schriftzug „OST“ vom Dach des Hauses. Eine kurzfristig auf Twitter angekündigte Aktion – und ein Coup von Frank Castorf, der die längste Dernière der Stadtgeschichte einläutet. Sie wird kommenden Samstag, nach der definitiv letzten Vorstellung – „Baumeister Solness“ – in einem Straßenfest kulminieren, das sich bis zum Alexanderplatz ziehen soll. Lauter Verzweifelte, Erinnerungstrunkene werden da feiern. Sie wissen: So wie es war, wird es nie wieder sein. Kann es nicht. Weil der Genius Loci – diese einmalige kreative Dichte bei zugleich enormer künstlerische Freiheit, die die Castorf-Volksbühne ihren Regisseuren und Schauspielern bot – nicht einfach an andere Häuser transferiert werden kann.

Künstlerisch verliert Berlin sein Kraftwerk

Die drei Buchstaben „OST“ waren ein starkes Zeichen. Typische Castorf-Ironie. Lüge und Wahrheit zugleich. Einerseits haben natürlich immer auch viele Westkünstler die Volksbühne geprägt: Christoph Schlingensief, René Pollesch, Christoph Marthaler, Sophie Rois. Andererseits entsprang das Theaterwunder vom Rosa-Luxemburg-Platz ja tatsächlich einer völlig genuinen, nicht zu leugnenden DDR-Tradition, die an der Volksbühne allerdings schon in den neunziger Jahren in etwas völlig Anderem, einem Genre- und Milieugrenzen lässig hinter sich lassenden, in völlig neue Erkenntnissphären abhebenden Theaterstil aufging. Hübsch, wie der Schriftzug „OST“, von der S-Bahn aus gesehen, tatsächlich direkt im Osten lag.

Mit seinem Verschwinden ändert sich erstmals in diesem Drama auch direkt das Stadtbild. Und vielleicht dämmert es jetzt auch dem Letzten, dass hier nicht einfach ein Intendantenwechsel stattfindet. Sondern ein Exodus. Die neue Volksbühne wird mit der bisherigen nur noch das steinerne Mauerwerk gemeinsam haben. Auch wenn eine größere Anzahl an Mitarbeitern übernommen wird: Künstlerisch verliert Berlin sein Kraftwerk. Und das ohne Not. Hätte Kurzzeit-Kulturstaatssekretär Tim Renner dem neuen Intendanten Chris Dercon nicht ein anderes Haus geben können, wenn er ihn in der Stadt haben will?

Wird Castorf das Straßenfest zum Abbau des Rads nutzen?

Natürlich fragen sich jetzt alle: Verschwindet auch noch das Rad? Jenes von Bert Neumann geschaffenem Kunstwerk, das das Räuberhafte der Volksbühnen-Ästhetik so bezwingend auf den Punkt brachte? Wird Frank Castorf das Straßenfest für eine weitere, seine spektakulärste Aktion nutzen und das Rad tatsächlich abbauen lassen? Sein Verlust wäre kaum zu ertragen.

Noch unerträglicher allerdings wäre sein Stehenbleiben. Denn was bedeutet das Rad vor der Dercon-Volksbühne noch, was kann es überhaupt bedeuten? Es wäre eine leere Hülle, Schneckenhaus ohne Inhalt, Signifikant ohne Signifikat. Pure Behauptung. Das, worauf es verweist, gibt es nicht mehr. Einsam, verloren und an den Füßen rostend (tut es jetzt schon!) stünde es auf dem Platz, und jeder, der die Castorf-Volksbühne kannte, wird den Kragen hochschlagen und schnell weitergehen.

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