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Sein Kaiser-Wilhelm-Bart wirkt ziemlich flauschig: MC Fitti.

© picture alliance / dpa

Der neue Hype um Bärte: Die Behaarlichen

Ein Phänomen der Retrokultur wuchert derzeit besonders heftig: Bärte. Einst galt ein "Kaiser-Wilhelm-Bart" als Ausdruck von Patriotismus. Später riefen Zauselbärte zur Revolte auf. Von der einstigen Artenvielfalt ist in der neuen Bartwelle allerdings nicht mehr viel übrig. Nun steht die Gesichtsbehaarung vor allem für eins: Ironie.

Die Zeiten werden haariger. Unter den Phänomenen der Retrokultur gibt es eines, das derzeit besonders wuchert: der Bart. Übermäßige Gesichtsbehaarung war lange bloß das Erkennungszeichen von Hipstern und Nerds, inzwischen ist sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen, bei Briefträgern, Nationalspielern und Chefredakteuren. Verloren ging dabei allerdings die Artenvielfalt. Denn neben dem gemeinen Voll- und Oberlippenbart existieren heute allenfalls noch der „Goatee“, der „Henriquatre“ oder der ästhetisch umstrittene „Pornobalken“. Der „Kaiser-Wilhelm-Bart“, ganzer Stolz der vorletzten Jahrhundertwende („Es ist erreicht!“), verkam zur ironisch gezwirbelten Schrumpfform im Gesicht des Berliner Rappers MC Fitti.

Wie groß im 19. Jahrhundert, der Bartepoche schlechthin, der Reichtum der Moden und Pflegeformen war, zeigt sich in den „Buddenbrooks“. Über den manierierten Mitgiftjäger Grünlich, Tony Buddenbrooks ersten Ehemann, heißt es dort leicht abfällig: „Er trug Kinn und Oberlippe glattrasiert und ließ den Backenbart nach englischer Mode lang hinunterhängen; diese Favoris waren von ausgesprochen goldgelber Farbe:“ Mit „Favoris“, muss man wissen, sind Koteletten gemeint. Pastor Tiburtius wird als kauziger Umstandskrämer eingeführt: „Er trug einen dünnen, aber langen blonden Backenbart, der geteilt war und dessen Enden er manchmal, der Bequemlichkeit halber, nach beiden Seiten hin über die Schultern legte.“

Und der schwerfällige Hopfenhändler Permaneder, zweiter Gatte von Tony, wird bespöttelt: „Der hellblonde, spärliche, fransenartig den Mund überhängende Schnurrbart gab dem kugelrunden Kopfe etwas Seehundartiges.“ Ein Blick ins Gesicht genügt, um das Wesen der Figuren zu erahnen. Die Barttracht enthüllt ihren Charakter. Autor Thomas Mann trug übrigens, als er 1901 seinen Debütroman veröffentlichte, einen buschigen Schnauzbart à la Boheme, demonstrativ ohne monarchistisch erigierte Spitzen.

Bärte gehörten zu den frühesten Opfern des Industriezeitalters. Nachdem der Handelsreisende King Camp Gillette in einem Geistesblitz bei der Morgenrasur die Einwegrasierklinge erfunden hatte, begann er 1903 mit der Massenproduktion. Im Jahr darauf wurden bereits 123 000 Klingen ausgeliefert, 1917 orderte das Kriegsministerium 36 Millionen Exemplare für die in Frankreich kämpfenden US-Soldaten. „Zwischen 1900 und 1950 verschwanden Bärte fast vollständig, außer auf den Gesichtern einiger Ewiggestriger und Exzentriker“, konstatiert Allan Peterkin, Autor des Standardwerks „One Thousand Beards“, im gerade erschienenen Sammelband „Anythings Grows“ (15 Essays zur Geschichte, Ästhetik und Bedeutung des Bartes, herausgegeben von Jörg Scheller und Alexander Schwinghammer, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014, 315 S., 29,90 €).

Die Hygienebewegung verdammte Bärte als Brutstätten von Bakterien. So berichtete die „Chicago Chronicle“ 1903, dass der Durchschnittsbart mehr als 200 000 „misanthropische Bakterien“ beherberge. Bartträger standen überdies in Generalverdacht, weil sie gemäß der Parole „Hinter Hecken falsche Gedanken sich verstecken“ als unzuverlässig galten.

1907 forderte ein Abgeordneter aus New Jersey, dass Schnurrbärte in den USA künftig besteuert werden sollten. Später gerieten Bärte endgültig in Verruf, weil die beiden übelsten Diktatoren, Hitler und Stalin, sie zu ihrem Markenzeichen gemacht hatten. „Seitdem“, schreibt Peterkin, „ist der Bart der Todesstoß jedes westlichen Politikers“. Letzte deutsche Spitzenpolitiker mit Bart waren Rudolf Scharping und Kurt Beck. Beck galt in Berlin schnell als „provinziell“ und wurde von seiner eigenen Partei geschasst. Die Karriere von Scharping, der als „Ziege“ verhöhnt worden war, endete in einem mallorquinischen Swimmingpool. Eine späte Vollrasur hatte ihn nicht mehr retten können.

Die Renaissance des Bartes begann nach dem Zweiten Weltkrieg. Nun verkörperte die Gesichtsbehaarung einen Akt der Auflehnung. 1954 freute sich das „Barber’s Journal“ über die wachsende Zahl von Bärten auf der Madison Avenue und im Greenwich Village von New York. Beatniks, Bohemiens und Künstler in Amerika und Europa ließen sich bevorzugt einen „Intello-Schnauzer“ (Peterkin) stehen. Haupt- und Backenhaar sprießten in der Hippie-Epoche immer üppiger, der Aufforderung aus dem Musical „Hair“ folgend: „Wunderbar ist so langes HAAAAAAAAAAAR! / Lass’ es leben, Gott hat’s mir gegeben, mein Haar!“

Bärte, die im 19. Jahrhundert noch Patriotismus demonstrieren sollten, wurden jetzt kulturell umcodiert, zu einem Ausdruck von „Natürlichkeit“. Musiker fingen an, mit Barttrachten zu experimentieren. Die bartlos berühmt gewordenen Beatles erreichten 1969 vollbärtig mit dem Album „Abbey Road“ den Gipfel ihrer Kreativität. Freddy Quinn, stets glattrasiert, sang in seiner Anti-68er-Hymne „Wir“ zwar „Auch wir sind für Härte / Auch wir tragen Bärte“, womit er domestizierte, „getrimmte“ Polizisten-, Fernfahrer und Postbeamtenbärte meinte, doch der Siegeszug von Pop und Zottelhaar war nicht mehr aufzuhalten.

Die Beatles, befindet der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller, hätten eigentlich „The Beardles“ heißen müssen und stellt die These auf: „Je Avantgarde, desto Vollbart“. Allerdings gibt er auch ein Gegenbeispiel. Heavy-Metal-Musiker Lemmy Kilmister verfügt zwar über den prachtvollen Oberlippenbackenbart eines Südstaatlers von 1864, hatte mit Avantgarde aber nie etwas am Haar, äh Hut.

Den Auftakt der neuen Bartbewegung datieren die Autoren ins Jahr 1993, als Polizisten in 13 US-Bundesstaaten das Tragen von Gesichtshaar verboten wurde. Als Reaktion darauf stellten Hipster, Hedonisten und Hurraavantgardisten das Rasieren ein. Auch Gott stellen wir uns übrigens als bärtigen Mann vor.

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